Der goldene Atlas der Entdeckerinnen und Entdecker
Die Geografie des Erdballs wurde nach dem Prinzip „Trial and Error“erkundet – sensationelle Entdeckungen wechselten einander mit verheerenden Misserfolgen ab.
AAls der ehrgeizige und ein wenig größenwahnsinnige Genuese Christoph Kolumbus 1492 aufbrach, um den Seeweg nach Indien zu erkunden, endete nicht nur das Mittelalter in Europa. Dass er statt Indien Amerika, „die Neue Welt“, erreichte, war die bis dahin größte geografische Entdeckung der Menschheitsgeschichte. Später stellte sich freilich heraus, dass die Wikinger schon 500 Jahre früher in Amerika gelandet waren. Auch sie hatten sich geirrt, sie wollten ursprünglich nach Island. Der britische Dokumentarfilmer und -autor Edward Brooke-Hitching erzählt von der Erkundung der Welt und illustriert die Kapitel seines „Goldenen Atlas“mit sensationell zu nennenden Land- und Seekarten auf dem jeweiligen Wissensstand der Epochen. Sie stammen aus Privatsammlungen und Archiven der ganzen Welt.
Zu Ende des 13. Jahrhunderts waren die Erlebnisse des venezianischen Kaufmanns Marco Polo bekannt geworden. Der damals 17-Jährige war auf der schon berüchtigten Seidenstraße nach China gelangt. Polos Erzählungen seiner Jahre am Hof des Kublai Khan gelten nicht als durchgängig glaubwürdig. Angesichts ihres Detailreichtums können sie aber nicht völlig erfunden sein. Polos Bericht widerlegt manche Vorurteile der Franziskanermönche und China-Reisenden Odorich von Portenau und Giovanni da Pian del Carpini, die von Zwergen berichteten, „Wilden“, die nicht sprechen könnten und keine Gelenke in den Beinen hätten.
Noch bevor Kolumbus nach Indien aufbrach, erkundeten die Portugiesen ab 1435 Afrika. Zunächst entdeckten sie Madeira und die Azoren, später das Einfallstor nach Westafrika über die Flüsse Senegal und Gambia. Heinrich der Seefahrer war treibende Kraft hinter den Expeditionen, nahm selbst aber an keiner Reise teil.
Da der Landweg nach China zu Schätzen wie Gewürzen, Seide und Porzellan nach dem Zerfall der mongolischen Herrschaft und der Eroberung Konstantinopels durch den osmanischen Sultan Mehmed II. für Europa blockiert war, brach Kolumbus im Auftrag des spanischen Hofs, Königin Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II., König von Aragon, auf. Der gierige Kolumbus wäre fast noch gescheitert, weil er nicht nur zum Admiral, Vizekönig und Gouverneur aller entdeckten Länder ernannt werden wollte, sondern auch noch zehn Prozent aller Gewinne forderte.
Statt in Indien landete Kolumbus bekanntlich auf den Bahamas, auf Kuba und dem Gebiet der heutigen Dominikanischen Republik. Den Seeweg nach Indien fand schließlich der Portugiese Vasco da Gama auf der sogenannten Gewürzroute. Am 20. Mai 1498 erreichten da Gamas Schiffe Calicut im indischen Bundesstaat Kerala – nicht zu verwechseln mit Kalkutta im Bundesstaat Westbengalen. Damit hatte Vasco da Gama die Behauptung des griechischen Geografen Claudius Ptolemäus widerlegt, der Atlantik und der indische Ozean seien zwei völlig getrennte Meere.
1494 teilten Spanien und Portugal die Welt untereinander auf. So überraschte es, dass der spanische König Karl I. einen Portugiesen auswählte, um die südliche Route in den Pazifik zu finden: Fernão de Magalhães, der als Weltumsegler Magellan berühmt werden sollte. Die Passage wurde als Magellanstraße zum Begriff. Von den 270 Mann Besatzung kehrten nur 18 zurück. Magellan selbst wurde auf den Philippinen von Einheimischen ermordet.
Die Ausbeutung der Neuen Welt fand in den Raubzügen von Francisco Pizarro 1531 einen ersten Höhepunkt – mit der blutrünstigen Zerstörung der Hochkultur
der Inka in Peru. Auf die aus der Karibik mit Gold beladenen heimkehrenden spanischen Frachtschiffe hatte es der britische Pirat Francis Drake abgesehen, der als erster Engländer über die Magellanstraße den Pazifik erreichte. 1557 pachteten die Portugiesen eine Insel vor dem chinesischen Perlfluss und gründeten Macau, das neben dem britischen Hongkong (ab 1841) bis in die 1990er-Jahre ein Handelsdrehkreuz nach China war. Der Amsterdamer Kapitän Willem Jansz sollte 1605 die Küste Neuguineas erforschen, entdeckte aber zufällig Australien.
Der russische Zar Peter der Große beauftragte 1724 den Dänen Vitus Jonassen Bering zu erkunden, wie weit sich sein riesiges Reich gegen Osten erstreckte und ob es mit der „Neuen Welt“zusammenhing. 1741 erreichte Bering mit einer Expedition Südalaska und den Mount Saint Elias. Die Meerenge zwischen Asien und Amerika heißt seitdem Beringstraße.
Romanciers des 20. Jahrhunderts, wie der US-Amerikaner John Irving („Owen Meany“), behübschten ihre Belletristik gern mit klangmalerischen Bougainvillea-Hecken. Der Name stammt von dem französischen Seefahrer Louis Antoine de Bougainville – wie auch die Insel Bougainville im Archipel der Salomonen. Er umsegelte als erster Franzose die Welt. An Bord von Bougainvilles Schiff befand sich die Botanikerin Jeanne Baret, die erste Frau, die die Erde umsegelte. Sie musste sich als Diener verkleiden – Frauen waren ja an Bord nicht geduldet.
Der britische Kapitän James Cook stieß als erster Europäer auf die Ostküste Australiens und sichtete „riesige Hasen“(Kängurus). Als Cook 1774 die Antarktis erreichte, war der Mythos vom Südkontinent Terra Australis widerlegt. Bei Cooks nächster Expedition 1776 war William Bligh Navigator, dessen harter Führungsstil zwölf Jahre später die Meuterei auf der Bounty auslösen sollte. Auf Hawaii wurde Cook – wie Magellan auf den Philippinen – von einem Ureinwohner ermordet.
Mit Alexander von Humboldt erreicht die Entdeckungsgeschichte das 19. Jahrhundert. In Südamerika entdeckte er, dass der Orinoco mit dem Einzugsgebiet des Amazonas verbunden war, was Hydrologen ausgeschlossen hatten. Auf dem Weg nach Mexiko entdeckte er den Humboldtstrom. Mit 60.000 Pflanzen, Präparaten und Messdaten, deren Auswertung 30 Jahre in Anspruch nehmen sollte, kehrte der Berliner Humboldt, der als letzter Universalgelehrter und „Vater der Ökologie“gilt, zurück.
Die Entdeckungsreisen zu den Erdpolen führten zu dramatischen Wettläufen. Die österreich-ungarische Nordpolexpedition entdeckte 1872–74 Franz-Joseph-Land. Der Norweger Fridtjof Nansen ließ sein Schiff 1893 mit dem Eis über den Nordpol treiben, verfehlte ihn aber um 500 km. Landsmann Roald Amundsen fand 1903 als Erster die Nordwestpassage und erreichte im Wettlauf mit dem Briten Robert Falcon Scott 1911 den Südpol. Scotts Mannschaft erfror nur elf Meilen vor dem nächsten Vorratslager. Ernest Shackletons Südpolexpedition 1814 scheiterte schon im Weddell-Meer. Nach zwei Jahren kehrte die Mannschaft aber vollständig zurück.
Natürlich ist dieser Atlas nicht in erster Linie ein Buch für Buben, aber lediglich ein Dutzend Seiten sind Forscherinnen gewidmet. Trotzdem dokumentiert das Werk Wissensdurst und Wagemut des Menschen und unterschlägt nicht, dass nur finanzdurstige Königshäuser viele Expeditionen ermöglichten.
Buch: Edward Brooke-Hitching: „Der goldene Atlas“, dtv, 258 Seiten, 30,90 Euro.