Gastkommentar
„Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“„Alle Mühe ist doch vergebens.“„Was immer die Menschen sagen mögen, sie handeln zum eigenen Vorteil.“„Wenn dein Gewissen rein bleiben soll, darfst du es nicht benutzen.“Dieser letzte Satz wird Otto von Bismarck zugeschrieben. Alle diese Aussagen können als Beispiele für Zynismus gelten. Zynismus ist „beißender Spott, der keine Ehrfurcht kennt und das Verfolgen von Idealen als aussichtslos zurückweist.“Zynismus ist aber auch die Unfähigkeit, überrascht zu werden. Ein altkluges „Ich habe es immer schon gewusst“wehrt die Möglichkeit, sich freudig überrascht zu zeigen, ab.
Da geht viel verloren – Lebensfreude, Lebendigkeit in einer Freundschaft, Kreativität haben wesentlich damit zu tun, dass ein Mensch sich überraschen lässt.
Natürlich gibt es sie, die peinliche Überraschung des Ochsen vor dem neuen Tor; und selbstverständlich gibt es Naivität, die man sich als erwachsener Mensch nicht leisten sollte. Doch Zynismus ist nicht Aufklärung, sondern Abklärung. Ein zynischer Mensch ist nicht aufgeklärt, sondern abgeklärt, mit allen Wassern gewaschen und damit glatt, das Leben perlt an ihm ab.
Wir feiern Weihnachten. Und wie es sich eingebürgert hat, feiern wir das Fest mit
Kitsch und Sentimentalität. Es mag hier ein „Muttertagseffekt“am Werk sein – unter dem Jahr wird von Müttern oftmals wenig Aufhebens gemacht, an einem Tag im Mai werden Mütter in mitunter peinlicher Übertreibung in den Himmel gehoben. Ein Mal im Jahr bricht Weihnachtssentimentalität aus, das Bild der harmonisch feiernden Familie, friedlich versammelt unter dem
Baum. Leuchtende Kinderaugen, liebevoll ausgesuchte Päckchen, Gesang. Ein Mal im Jahr werden wir mit Glöckchen und Kerzen, dem Motiv des leise rieselnden Schnees und des stillen Sees, Rentieren und Schlitten eingelullt und hineingenommen in gelebten Kitsch. Kitsch, so hat es Milan Kundera einmal beschrieben, bedeutet, dass zwei Tränen über deine Wangen laufen. Die eine Träne sagt: Ach, wie putzig sind die Kinder, die da draußen spielen. Und die zweite Träne sagt: Ach, wie putzig bin ich, dass ich das putzig finde. Und erst die zweite Träne konstituiert Kitsch.
Weihnachten, so könnte man sich beschweren, ist zu einer Eruption von Kitsch und einer Sentimentalitätsorgie verkommen. Der eigentliche Sinn des Fests ist verloren gegangen. Geschenke sind Ausdruck sozialer Bilanzen, die sorgsam berechnet werden. Ja: Weihnachten möge nicht ganz aus der Krippe seiner Herkunft gerissen werden; ja, Weihnachten ist ein Fest, das ein
Motiv ausdrückt, das „zu schön ist, um wahr zu sein“(und gerade deswegen göttliche Wahrheit sein kann). Ja, Weihnachten ist nicht ein Fest, das aus Glöckchen und Schnee und Kerzen entstanden ist.
Und doch: Ein Mal im Jahr sich selber eingestehen dürfen, dass hier eine Sehnsucht nach (ganz) anderem ist, eine Sehnsucht nach Heil und heiler Familie, eine Sehnsucht nach Frieden, Frieden im Herzen. Ein Mal im Jahr auf kitschige Karten rührselige Worte schreiben, die tatsächlich aus unseren verkümmerten Herzen kommen. Ein Mal im Jahr liebevoll das Unnotwendige einpacken, dessen eingedenk, dass die Liebe vom Nichtnotwendigen getragen wird und doch das einzige Notwendige ist.
Ein Mal im Jahr eine Einübung in den Nichtzynismus genießen. Frohe Weihnachten!