In Indien wächst der Hindu-Nationalismus
Indien ist sicherlich weit weg von Europa. Aber was in diesem Land geschieht, kann uns nicht länger gleichgültig sein.
Die Indische Union gehört wie China zu den asiatischen Aufsteigern, die im Weltsystem ein wichtiges Wort mitreden. Als die am schnellsten wachsende große Wirtschaft weltweit gilt Indien trotz aktueller Krisenzeichen als aussichtsreicher Markt der Zukunft. Im Kampf um Klimaschutz, bei dem die erneuerbaren Energien Vorrang erhalten und die Ökonomien ökologisch umgebaut werden sollen, ist das Land mit der global bald größten Bevölkerung ein unentbehrlicher Partner. Politisch ist das demokratische Indien auf der internationalen Bühne als Gegengewicht zum immer stärker autoritär auftretenden China von zunehmender Bedeutung.
Als Land, dem die Zukunft gehört, sehen viele Inder mit großem Selbstbewusstsein ihre Union. In der Realität steckt Indien voller Widersprüche. Es ist eine Hightechnation mit wachsender Mittelschicht. Aber die halbe Bevölkerung verharrt noch immer in teils extremer Armut. Indien preist sich als größte Demokratie der Welt. Doch die Regierung in Delhi ist nicht in der Lage, Frauen wirksam vor Gewalt zu schützen oder am fest gefügten Kastensystem zu rütteln, das bis heute Millionen Menschen krass benachteiligt.
Trotz dieser Schattenseiten ist es der Indischen Union gelungen, in den mehr als 70 Jahren seit ihrer Gründung auf demokratischem Pfad zu bleiben und das Land langsam, aber kontinuierlich zu entwickeln. Bezugspunkt für die Nation ist eine Verfassung, die einen säkularen Staat mit der Trennung von Politik und Religion postuliert und potenziell allen Gruppen in diesem enorm vielfältigen Land gleiche staatsbürgerliche Rechte zumisst. Anders als Pakistan, das sich seit Anbeginn als „Land der Muslime“versteht und im Alltag mittlerweile tatsächlich dieser Religionsgruppe Vorrang gibt.
Es ist beunruhigend, dass Indien neuerdings auf ähnlichen Wegen geht. Seit seiner Wiederwahl im Mai verfolgt Premier Narendra Modi immer strikter eine hindu-nationalistische Agenda. Schritt für Schritt arbeitet seine Regierung daran, die große Hindu-Mehrheit im Lande zur bestimmenden Kraft zu machen. Ohne Kontakt mit der lokalen Bevölkerung hat Delhi der überwiegend muslimischen Krisenregion Kaschmir Autonomierechte entzogen und damit Empörung beim Erzrivalen Pakistan ausgelöst. Nun gibt es Wirbel um ein neues Gesetz zur Einbürgerung von Migranten, das nach dem Urteil einheimischer und ausländischer Experten die MuslimMinderheit diskriminiert. Das ist ein falscher Kurs, weil er das Land spaltet und seine Erfolge gefährdet.