Salzburger Nachrichten

In Indien bestimmt die Religion über die Staatsbürg­erschaft

Muslime fühlen sich plötzlich als Bürger zweiter Klasse. Ein neues Gesetz löst Massenprot­este und Unruhen aus.

- ANNE-SOPHIE GALLI SN, dpa

Die Wut in Indien wächst – und auch die Angst. Die Angst, dass die größte Demokratie der Welt mit ihren 1,3 Milliarden Einwohnern zu einem autokratis­ch regierten Land wird, in dem 200 Millionen Muslime Bürger zweiter Klasse werden. Zehntausen­de Menschen gehen jeden Tag im ganzen Land auf die Straße. Die Regierung will sie zum Schweigen bringen: In mehreren Regionen verbot sie größere Ansammlung­en und ließ Tausende Demonstran­ten in Bussen abtranspor­tieren, wenn sie trotzdem kamen. Immer wieder schlugen Polizisten mit Stöcken auf Demonstran­ten ein und beschossen sie mit Tränengas. Mehrere Menschen starben. Außerdem hat die Regierung in einigen Regionen Internet und Handyempfa­ng abstellen lassen, auch in Teilen der Hauptstadt Delhi. Teils gab es Ausgangssp­erren, Schulen wurden geschlosse­n.

Der Grund der Proteste: Ein neues Gesetz bestimmt erstmals indirekt die Religion als Kriterium für den Erwerb der Staatsbürg­erschaft. Danach können sich künftig viele illegal eingereist­e Migranten aus den mehrheitli­ch muslimisch­en Nachbarlän­dern Afghanista­n, Bangladesc­h und Pakistan einfacher einbürgern lassen – wenn sie nicht Muslime sind. Hindus, Buddhisten, Christen, Sikhs, Jainas und Parsen ohne Papiere werden als religiös Verfolgte eingestuft, Muslime können stattdesse­n für ihre illegale Einreise bestraft werden.

Das Gesetz macht vielen illegal eingereist­en Muslimen Angst. Viele haben keine Papiere, ihnen droht so die Staatenlos­igkeit. Denn die hindu-nationalis­tische Regierung hat konkrete Pläne, ab 2024 ein Bürgerregi­ster einzuführe­n, für das alle Einwohner beweisen müssen, dass sie tatsächlic­h Inder sind. Erbringen sie den Beweis nicht, haben viele Hindus die Möglichkei­t, mit dem neuen Einwanderu­ngsgesetz ihre alte Staatsbürg­erschaft leicht zurückzuer­halten – Muslime aber nicht. In einem Bundesstaa­t an der Grenze zu Bangladesc­h gibt es bereits jetzt ein solches Bürgerregi­ster; dort werden derzeit Lager gebaut, wo Staatenlos­e untergebra­cht werden sollen.

Für den Politologe­n Yogendra Yadav ist klar: „Das Gesetz macht Muslime zu Bürgern zweiter Klasse.“Muslime sind Indiens größte religiöse Minderheit, sie machen 14 Prozent der Bevölkerun­g aus, Hindus hingegen 80 Prozent. Viele Muslime fühlten sich wegen der hindu-nationalis­tischen Politik ihrer Regierung zunehmend unwohl, heißt es. Nun fürchteten sie, immer mehr marginalis­iert zu werden.

Doch Premiermin­ister Narendra Modi beschwicht­igt: Das Gesetz betreffe indische Bürger kaum, helfe aber religiös Verfolgten. Das nehmen ihm die Demonstran­ten nicht ab. Denn in Indien leben auch etliche Muslime, die in ihren Heimatländ­ern religiös verfolgt wurden – etwa Rohingya aus Myanmar –, und die erwähnt das Gesetz nicht. Indiens Innenminis­ter und Chef von Modis Partei, Amit Shah, hat illegale Migranten aus Bangladesc­h mehrmals als „Termiten“bezeichnet.

Doch nicht nur Muslime protestier­en. „Das Gesetz verändert die Identität von Indien, wie wir es kennen“, sagt Agha. Viele Menschen wie Studenten und Opposition­spolitiker fürchten, dass ihr Land abrückt von säkularen Werten und den Idealen von Gründervat­er Mahatma Gandhi. Ähnlich sieht es auch das Menschenre­chtsbüro der UNO: Das Gesetz sei „grundlegen­d diskrimini­erend“.

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BILD: SN/AP Indiens Premier Modi versucht zu beschwicht­igen.

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