In Indien bestimmt die Religion über die Staatsbürgerschaft
Muslime fühlen sich plötzlich als Bürger zweiter Klasse. Ein neues Gesetz löst Massenproteste und Unruhen aus.
Die Wut in Indien wächst – und auch die Angst. Die Angst, dass die größte Demokratie der Welt mit ihren 1,3 Milliarden Einwohnern zu einem autokratisch regierten Land wird, in dem 200 Millionen Muslime Bürger zweiter Klasse werden. Zehntausende Menschen gehen jeden Tag im ganzen Land auf die Straße. Die Regierung will sie zum Schweigen bringen: In mehreren Regionen verbot sie größere Ansammlungen und ließ Tausende Demonstranten in Bussen abtransportieren, wenn sie trotzdem kamen. Immer wieder schlugen Polizisten mit Stöcken auf Demonstranten ein und beschossen sie mit Tränengas. Mehrere Menschen starben. Außerdem hat die Regierung in einigen Regionen Internet und Handyempfang abstellen lassen, auch in Teilen der Hauptstadt Delhi. Teils gab es Ausgangssperren, Schulen wurden geschlossen.
Der Grund der Proteste: Ein neues Gesetz bestimmt erstmals indirekt die Religion als Kriterium für den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Danach können sich künftig viele illegal eingereiste Migranten aus den mehrheitlich muslimischen Nachbarländern Afghanistan, Bangladesch und Pakistan einfacher einbürgern lassen – wenn sie nicht Muslime sind. Hindus, Buddhisten, Christen, Sikhs, Jainas und Parsen ohne Papiere werden als religiös Verfolgte eingestuft, Muslime können stattdessen für ihre illegale Einreise bestraft werden.
Das Gesetz macht vielen illegal eingereisten Muslimen Angst. Viele haben keine Papiere, ihnen droht so die Staatenlosigkeit. Denn die hindu-nationalistische Regierung hat konkrete Pläne, ab 2024 ein Bürgerregister einzuführen, für das alle Einwohner beweisen müssen, dass sie tatsächlich Inder sind. Erbringen sie den Beweis nicht, haben viele Hindus die Möglichkeit, mit dem neuen Einwanderungsgesetz ihre alte Staatsbürgerschaft leicht zurückzuerhalten – Muslime aber nicht. In einem Bundesstaat an der Grenze zu Bangladesch gibt es bereits jetzt ein solches Bürgerregister; dort werden derzeit Lager gebaut, wo Staatenlose untergebracht werden sollen.
Für den Politologen Yogendra Yadav ist klar: „Das Gesetz macht Muslime zu Bürgern zweiter Klasse.“Muslime sind Indiens größte religiöse Minderheit, sie machen 14 Prozent der Bevölkerung aus, Hindus hingegen 80 Prozent. Viele Muslime fühlten sich wegen der hindu-nationalistischen Politik ihrer Regierung zunehmend unwohl, heißt es. Nun fürchteten sie, immer mehr marginalisiert zu werden.
Doch Premierminister Narendra Modi beschwichtigt: Das Gesetz betreffe indische Bürger kaum, helfe aber religiös Verfolgten. Das nehmen ihm die Demonstranten nicht ab. Denn in Indien leben auch etliche Muslime, die in ihren Heimatländern religiös verfolgt wurden – etwa Rohingya aus Myanmar –, und die erwähnt das Gesetz nicht. Indiens Innenminister und Chef von Modis Partei, Amit Shah, hat illegale Migranten aus Bangladesch mehrmals als „Termiten“bezeichnet.
Doch nicht nur Muslime protestieren. „Das Gesetz verändert die Identität von Indien, wie wir es kennen“, sagt Agha. Viele Menschen wie Studenten und Oppositionspolitiker fürchten, dass ihr Land abrückt von säkularen Werten und den Idealen von Gründervater Mahatma Gandhi. Ähnlich sieht es auch das Menschenrechtsbüro der UNO: Das Gesetz sei „grundlegend diskriminierend“.