Wie schier Undenkbares möglich wird
Allein dass Türkis-Grün eine Option geworden ist, zeigt, wie flexibel Politiker, aber auch Wähler sein können.
Versuchen wir, uns ein Jahr zurückzuversetzen und vorzustellen, dass Österreich eine türkisgrüne Bundesregierung bekommen könnte. Am 27. Dezember 2018 wäre das undenkbar gewesen: Türkis-Blau war erst in die Gänge gekommen. Die ÖVP hatte gute, die FPÖ passable Umfragewerte. Beide Parteien passten inhaltlich zusammen. Auf der anderen Seite waren die Grünen nicht einmal im Hohen Haus vertreten. Der Kurs von Sebastian Kurz widersprach ihnen zudem so sehr, dass Bundessprecher Werner Kogler erklärte, dass er „mindestens rechtspopulistisch“sei. Sogar unmittelbar vor der Nationalratswahl stellte er fest, dass Türkis-Grün „ziemlich unwahrscheinlich“sei.
All das beruhte auf Gegenseitigkeit: „Es kann ja nicht sein, dass unsere Kinder nach Wean fahren und als Grüne zurückkommen“, sagte ÖVP-Klubobmann August Wöginger auf einer Wahlveranstaltung in Ried im Innkreis. Die Botschaft: Die Grünen sind die Letzten.
Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass ÖVP und Grüne bei den Koalitionsverhandlungen schon so weit gekommen sind, ohne in eine veritable Krise zu stürzen. Gerade im Falle der neuen Volkspartei ist das nicht selbstverständlich: Sie hat die jüngste Nationalratswahl mit einer „ordentlichen Mitterechts-Politik“(Kurz) gewonnen und setzt sich heute zu einem Drittel aus ehemaligen Anhängern von FPÖ, BZÖ und Team Stronach zusammen. Da verkörpern die Grünen wirklich eine ganz andere Welt.
Wir lernen jedoch, wie schier Undenkbares möglich werden kann: Politiker und Wähler sind beweglich. Schon aus den SORA-Wahltagsbefragungen lässt sich herauslesen, dass die ÖVP-Wähler heute ganz andere Probleme sehen als bei der Nationalratswahl 2017: Nicht mehr Asyl und Soziales stehen ganz vorn, sondern Gesundheit und Wirtschaft. Auch Sebastian Kurz hat seine Agenda umgebaut: Statt „Schließung der Flüchtlingsrouten“steht „Bewältigung der Wirtschaftsflaute“an der Spitze. Das ist ein wichtiger Punkt: Mit Wirtschaftspolitik ließ sich in den vergangenen Wochen eher eine Gesprächsgrundlage mit den Grünen finden als mit der bisherigen Flüchtlingspolitik; mit ihr wäre wohl nichts gegangen, da sind die Differenzen viel zu groß.
Parallel dazu ist auch die öffentliche Meinung gekippt; und zwar zugunsten einer türkis-grünen Koalition: Bis zum Wahltag war die Frage nach dieser Variante eher theoretisch und fand auch von daher kaum Zustimmung. Seither hat sich nicht nur eine Mehrheit im Nationalrat dafür ergeben; auch die Alternativen (Türkis-Blau, Türkis-Rot) haben sich aufgelöst. Sprich: Neben einer Minderheitsregierung ist am 27. Dezember 2019 eigentlich nur noch Türkis-Grün möglich.