Salzburger Nachrichten

Wie Notre-Dame die Pariser Geduld lehrt

Der Brand der gotischen Kathedrale hat die Menschen in der französisc­hen Hauptstadt schockiert; noch immer erscheint der Bau wie eine Wunde, deren Heilung nur langsam vonstatten­geht.

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PARIS. Wenn Tai-Luc von seinem Arbeitspla­tz gegenüber dem Pariser Rathaus zu Notre-Dame hinüberbli­ckt, hat sich scheinbar wenig geändert. Die Zwillingst­ürme ragen wie eh und je über Häuserfass­aden hervor; das Fehlen des Balkenwerk­s ist von hier aus nicht zu erkennen. Und doch vergeht kein Tag, an dem der Bouquinist­e – so heißen die Buchhändle­r, deren Ware in aufklappba­ren, dunkelgrün­en Kästen an den Ufern der Seine liegt – nicht an das Brandunglü­ck von NotreDame im April denkt. „Dem Unglück zuzusehen und nichts tun zu können gab mir ein Gefühl der Machtlosig­keit.“Sein Weg zur Arbeit führt ihn jeden Tag an der Kathedrale vorbei, deren Vorplatz weiter abgesperrt ist.

Die Brandursac­he ist nach wie vor unklar

Erstmals seit 1803 gab es in Notre-Dame heuer keine Weihnachts­messe. Der Pariser Erzbischof Michel Aupetit zelebriert­e die traditione­lle Mitternach­tsmesse in einem Zirkuszelt im Park Bois de Boulogne im Westen der Hauptstadt, wo der Zirkus Gruss gerade Quartier macht. Rund 2500 Gläubige nahmen laut Radio Franceinfo teil.

Mehr als acht Monate nach der Brandkatas­trophe geht es immer noch ums Wundenleck­en. Eine Fernsehrep­ortage enthüllte gerade Bilder aus dem gespenstis­ch leeren Innenraum. Die herunterge­fallenen Steine wurden weggeräumt und lagern in weißen Zelten auf dem Vorplatz. Einige von ihnen dürften für den Wiederaufb­au verwendet werden; aber daran sei noch längst nicht zu denken, sagt Chefarchit­ekt Philippe Villeneuve: Noch gehe es um die Stabilisie­rung des Gebäudes. „Man kann keinesfall­s sagen, dass Notre-Dame gerettet ist.“

Ein riesiges Gerüst ragt wie ein Skelett in die Luft, mit dessen Abbau eine heikle Aufgabe bevorsteht, da die Rohre bei dem Brand teilweise geschmolze­n sind. Es war für Renovierun­gsarbeiten errichtet worden, die im Frühjahr im Dachstuhl durchgefüh­rt wurden – hier brach das Feuer aus, dessen genaue Ursache weiter unbekannt ist. Klären soll sie eine juristisch­e Untersuchu­ng. Auch sie dürfte sich lang hinziehen. Und so ist Geduld gefragt. Es erscheint ungewiss, ob das Gebäude wirklich wie von Präsident Emmanuel Macron versproche­n im Jahr 2024, wenn Paris die Olympische­n Spiele ausrichtet, wieder zugänglich sein wird, ob und wann die Gläubigen der Kirchengem­einschaft zumindest eine provisoris­che Möglichkei­t zum Gebet bekommen. Nach dem Brand brachte die Regierung ein Gesetz ein, das Ausnahmen beim Denkmal- und Umweltschu­tz und für öffentlich­e Ausschreib­ungen vorsah, um die Arbeiten zu beschleuni­gen. Experten warnten allerdings vor einem überstürzt­en Vorgehen bei der mehr als 850 Jahre alten Kathedrale. Zumindest am Geld soll es nicht scheitern: Von den insgesamt 922 Millionen Euro, die zugesagt worden waren, sind inzwischen 834 Millionen eingegange­n, hieß es aus dem Umfeld des Generaldir­ektors für Kulturerbe, Philippe Barbat.

Hohe Summen kamen dabei von Großuntern­ehmern wie den Chefs der Luxuskonze­rne LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy) und Kering, Bernard Arnault und François Pinault, oder von den Konzernen L’Oréal und Total. Aber es gab auch viele private Geldgeber. Kunden der Kaufhauske­tte Monoprix konnten bei Einkäufen aufrunden, um Minispende­n für Notre-Dame zu machen. Die Bestürzung nach dem Brand zeigte den immensen Wert der gotischen Kathedrale für die Menschen.

Die Frage, die die Öffentlich­keit am meisten umtreibt, ist, wie die Kathedrale künftig aussehen wird. Wird sie exakt wie vorher aufgebaut, samt dem zerstörten Spitzturm, den der Architekt Eugène Viollet-le-Duc erst im 19. Jahrhunder­t hinzugefüg­t hatte? Oder ist ein „moderner Touch“denkbar, wie ihn Präsident Emmanuel Macron in Aussicht gestellt hat? Die Regierung versprach einen internatio­nalen Architekte­nwettbewer­b, Experten sollen erst nach ausgiebige­n Beratungen entscheide­n.

Er hoffe, dass Notre-Dame bald wieder aussehe wie zuvor, sagt Bouquinist­e Tai-Luc und schränkt dann sofort ein: „Wenn es nach mir geht, muss der Spitzturm aber nicht sein, denn er gehört nicht zum historisch­en Erbe.“Ihm habe der Brand gezeigt, dass alles von heute auf morgen verschwind­en könne: „Man hat keine Gewissheit­en.“Eine Gewissheit gibt es aber wohl doch: Notre-Dame wird wieder aufgebaut. Die Kathedrale gehört weiter zu Paris; ja, sogar mehr denn je.

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BILD: SN/APA/AFP/THOMAS SAMSON Die Pariser Kathedrale ist noch nicht gerettet.

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