Dank und Zweifel am Kommunismus
Die Erinnerungen des ungarischen Historikers György Dalos durchleuchten den Kommunismus und seine Folgen.
Die Familie von György Dalos hat viele Mitglieder im Holocaust verloren. Er war aber auch im kommunistischen Ungarn antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt – was sich als einer der roten Fäden durch die Erinnerungen zieht, die unter dem Titel „Für, gegen und ohne Kommunismus“erschienen sind.
György Dalos studierte von 1962 bis 1967 in Moskau Geschichte, 1964 trat er in die Kommunistische Partei ein. 1968 wurde er als maoistischer Linksabweichler zu einer Haftstrafe verurteilt; danach konnte er kaum publizieren und arbeitete als Übersetzer. 1977 war er Mitinitiator der ungarischen Demokratiebewegung, 1987 kam er mit einer Reisetasche und der Schreibmaschine seines Vaters nach Wien, wo er bis 1995 hauptsächlich lebte. Er ist ein Zeitzeuge, der viel zu erzählen hat.
Vor allem aber ist György Dalos Schriftsteller und Historiker. Mit nüchternem Blick zieht er Bilanz über sein Leben. Diese beginnt mit den Großeltern, die aus den slowakischen und rumänischen Gebieten der Habsburger Monarchie stammten. Frühe Lektüren auf Ungarisch, Deutsch und Russisch, aber auch Kinobesuche markieren seine Erinnerungen und die Formierung seines Bildes von der Sowjetunion; es ist geprägt von der Dankbarkeit gegenüber dem Lebensretter: „Stalin wurde von fast allen Juden in Ehren gehalten, eben als Verkörperung der Sowjetunion, deren Rote Armee die Ghettomauern im Jänner 1945 durchbrochen hatte.“
In den Moskauer Jahren kommen Dalos erste Zweifel; sie setzen ein, als ihm im Wohnheim fast seine ganze Kleidung gestohlen wird – ausgerechnet in Moskau, das er als Zentrum eines besseren Lebens sieht. Gleichzeitig betritt er die literarische Bühne: Er ist erst 21, als in Ungarn sein erster Gedichtband erscheint, zudem wird er zum Russland-Korrespondenten einer Kulturzeitschrift.
Er nutzt die Erinnerung zu einem detailreichen Einblick in die ungarische wie auch die russische Literaturszene und Kulturpolitik der Sechzigerjahre, hat aber auch die Weltpolitik und das Alltagsleben in der Sowjetunion im Blick. Er hat Chruschtschows Attacken auf die moderne Kunst und dessen Sturz durch Leonid Breschnew 1964 aus der Nähe miterlebt.
Seine Rolle in dieser Zeit analysiert Dalos so: „Ich schrieb aus tiefster Überzeugung das, was per se erlaubt oder gar erwünscht war, und badete mit meiner naiven Systemtreue in einer lauwarmen Konjunktur.“Und einige Seiten weiter notiert er: „Jetzt bin ich ein alter Mann, betrachte mit wachsender Skepsis die kaputte Welt und mein kaputtes Land und zweifle an meiner Fähigkeit, über irgendetwas ein relevantes Urteil zu sprechen, geschweige denn mich in die Angelegenheiten der Welt einzumischen. Und ich bin erstaunt über jenen jungen Mann, der ich einst war.“
Das sind zwei der wenigen, aber instruktiven Passagen, in denen Dalos aus der Chronologie ausbricht und sein Denken von damals aus heutiger Perspektive reflektiert. Über weite Strecken besticht seine Darstellung ja gerade dadurch, dass er die Genese seines eigenen Denkens und Handelns nachzeichnet und verständlich werden lässt. Das gelingt ihm vor allem durch eine produktive Verschränkung des Politischen mit dem Privaten. Dazu gehören Einblicke in Vaterlosigkeit und Waisenhaus oder die bedrückende Beziehung zu seiner kranken Mutter. Er erzählt auch von seinen Lieben, seiner ersten Ehe und der Beziehung zu seiner Tochter. Das sind keine Nebengeschichten, denn System und Politik dominieren auch den privaten Raum – vor allem als er ins Fadenkreuz des Geheimdienstes gerät.
Dalos brachte seine Zweifel am System nicht dadurch zum Ausdruck, dass er sich vom Kommunismus abwandte, sondern dass er ihn radikalisierte. Sein Vorbild wurde China, das Buch gibt Einblicke in das Programm der Gruppe, die im „Maoistenprozess“verurteilt wurde. Was Abgehört-Werden, Hausdurchsuchungen und der Verlust des Arbeitsplatzes für den Autor und seine Familie bedeuteten, wird detailreich erzählt.
Dabei blitzen Analysen des „Gulaschkommunismus“auf und wird die „Angstgemeinschaft“beschrieben, die Herrscher und Beherrschte in der späten Kádár-Ära verband.
„Für, gegen und ohne Kommunismus“ist prall gefüllt mit interessanten Erlebnissen. Bescheiden und selbstkritisch hat der Autor sich als Objekt im Visier und allenthalben blitzt sein Humor auf – etwa wenn er sein Buch „Meine Lage in der Lage“, das er in Westdeutschland publizieren konnte, in der Budapester Bibliothek nicht ausleihen kann, weil es als „Verschlusssache“gilt, und er feststellt: „Mir war es gelungen, etwas zu schreiben, was nicht einmal ich selbst lesen durfte.“
Wenn man Ungarn und die Sowjetunion, ja wenn man das 20. Jahrhundert verstehen will, kommt man um die Erinnerungen von György Dalos nicht herum. Sie enden vor 30 Jahren – mit dem Jahreswechsel 1989/90 – und werden hoffentlich eine Fortsetzung finden.
„Ich betrachte mit wachsender Skepsis die kaputte Welt.“György Dalos, Historiker