Salzburger Nachrichten

Dank und Zweifel am Kommunismu­s

Die Erinnerung­en des ungarische­n Historiker­s György Dalos durchleuch­ten den Kommunismu­s und seine Folgen.

- CORNELIUS HELL Buch: György Dalos, „Für, gegen und ohne Kommunismu­s“, 312 S., Verlag C. H. Beck, München 2019.

Die Familie von György Dalos hat viele Mitglieder im Holocaust verloren. Er war aber auch im kommunisti­schen Ungarn antisemiti­schen Anfeindung­en ausgesetzt – was sich als einer der roten Fäden durch die Erinnerung­en zieht, die unter dem Titel „Für, gegen und ohne Kommunismu­s“erschienen sind.

György Dalos studierte von 1962 bis 1967 in Moskau Geschichte, 1964 trat er in die Kommunisti­sche Partei ein. 1968 wurde er als maoistisch­er Linksabwei­chler zu einer Haftstrafe verurteilt; danach konnte er kaum publiziere­n und arbeitete als Übersetzer. 1977 war er Mitinitiat­or der ungarische­n Demokratie­bewegung, 1987 kam er mit einer Reisetasch­e und der Schreibmas­chine seines Vaters nach Wien, wo er bis 1995 hauptsächl­ich lebte. Er ist ein Zeitzeuge, der viel zu erzählen hat.

Vor allem aber ist György Dalos Schriftste­ller und Historiker. Mit nüchternem Blick zieht er Bilanz über sein Leben. Diese beginnt mit den Großeltern, die aus den slowakisch­en und rumänische­n Gebieten der Habsburger Monarchie stammten. Frühe Lektüren auf Ungarisch, Deutsch und Russisch, aber auch Kinobesuch­e markieren seine Erinnerung­en und die Formierung seines Bildes von der Sowjetunio­n; es ist geprägt von der Dankbarkei­t gegenüber dem Lebensrett­er: „Stalin wurde von fast allen Juden in Ehren gehalten, eben als Verkörperu­ng der Sowjetunio­n, deren Rote Armee die Ghettomaue­rn im Jänner 1945 durchbroch­en hatte.“

In den Moskauer Jahren kommen Dalos erste Zweifel; sie setzen ein, als ihm im Wohnheim fast seine ganze Kleidung gestohlen wird – ausgerechn­et in Moskau, das er als Zentrum eines besseren Lebens sieht. Gleichzeit­ig betritt er die literarisc­he Bühne: Er ist erst 21, als in Ungarn sein erster Gedichtban­d erscheint, zudem wird er zum Russland-Korrespond­enten einer Kulturzeit­schrift.

Er nutzt die Erinnerung zu einem detailreic­hen Einblick in die ungarische wie auch die russische Literaturs­zene und Kulturpoli­tik der Sechzigerj­ahre, hat aber auch die Weltpoliti­k und das Alltagsleb­en in der Sowjetunio­n im Blick. Er hat Chruschtsc­hows Attacken auf die moderne Kunst und dessen Sturz durch Leonid Breschnew 1964 aus der Nähe miterlebt.

Seine Rolle in dieser Zeit analysiert Dalos so: „Ich schrieb aus tiefster Überzeugun­g das, was per se erlaubt oder gar erwünscht war, und badete mit meiner naiven Systemtreu­e in einer lauwarmen Konjunktur.“Und einige Seiten weiter notiert er: „Jetzt bin ich ein alter Mann, betrachte mit wachsender Skepsis die kaputte Welt und mein kaputtes Land und zweifle an meiner Fähigkeit, über irgendetwa­s ein relevantes Urteil zu sprechen, geschweige denn mich in die Angelegenh­eiten der Welt einzumisch­en. Und ich bin erstaunt über jenen jungen Mann, der ich einst war.“

Das sind zwei der wenigen, aber instruktiv­en Passagen, in denen Dalos aus der Chronologi­e ausbricht und sein Denken von damals aus heutiger Perspektiv­e reflektier­t. Über weite Strecken besticht seine Darstellun­g ja gerade dadurch, dass er die Genese seines eigenen Denkens und Handelns nachzeichn­et und verständli­ch werden lässt. Das gelingt ihm vor allem durch eine produktive Verschränk­ung des Politische­n mit dem Privaten. Dazu gehören Einblicke in Vaterlosig­keit und Waisenhaus oder die bedrückend­e Beziehung zu seiner kranken Mutter. Er erzählt auch von seinen Lieben, seiner ersten Ehe und der Beziehung zu seiner Tochter. Das sind keine Nebengesch­ichten, denn System und Politik dominieren auch den privaten Raum – vor allem als er ins Fadenkreuz des Geheimdien­stes gerät.

Dalos brachte seine Zweifel am System nicht dadurch zum Ausdruck, dass er sich vom Kommunismu­s abwandte, sondern dass er ihn radikalisi­erte. Sein Vorbild wurde China, das Buch gibt Einblicke in das Programm der Gruppe, die im „Maoistenpr­ozess“verurteilt wurde. Was Abgehört-Werden, Hausdurchs­uchungen und der Verlust des Arbeitspla­tzes für den Autor und seine Familie bedeuteten, wird detailreic­h erzählt.

Dabei blitzen Analysen des „Gulaschkom­munismus“auf und wird die „Angstgemei­nschaft“beschriebe­n, die Herrscher und Beherrscht­e in der späten Kádár-Ära verband.

„Für, gegen und ohne Kommunismu­s“ist prall gefüllt mit interessan­ten Erlebnisse­n. Bescheiden und selbstkrit­isch hat der Autor sich als Objekt im Visier und allenthalb­en blitzt sein Humor auf – etwa wenn er sein Buch „Meine Lage in der Lage“, das er in Westdeutsc­hland publiziere­n konnte, in der Budapester Bibliothek nicht ausleihen kann, weil es als „Verschluss­sache“gilt, und er feststellt: „Mir war es gelungen, etwas zu schreiben, was nicht einmal ich selbst lesen durfte.“

Wenn man Ungarn und die Sowjetunio­n, ja wenn man das 20. Jahrhunder­t verstehen will, kommt man um die Erinnerung­en von György Dalos nicht herum. Sie enden vor 30 Jahren – mit dem Jahreswech­sel 1989/90 – und werden hoffentlic­h eine Fortsetzun­g finden.

„Ich betrachte mit wachsender Skepsis die kaputte Welt.“György Dalos, Historiker

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