Raffael-Jahr wirft neues Licht auf den Maler der Schönheit
Nach Michelangelo und Leonardo beginnt das nächste Jubiläumsjahr: Raffael wird in ein neues Licht gerückt.
2020 ist ein großes Raffael-Jahr. Zu seinem 500. Todestag wird der Maler und Architekt, der mit Leonardo da Vinci und Michelangelo das ewige Trio der Renaissancekünstler bildet, mit opulenten Ausstellungen gefeiert. Als „Maler der reinen Schönheit“wurde Raffael (im Bild: seine zwischen 1504 und 1505 entstandenen „Drei Grazien“) bis weit ins 19. Jh. verehrt, später tat sich die Kunstwelt schwerer mit seinen Idealen. Doch Raffael sei nur scheinbar der sanfte Schönling gewesen, als der er sich auch in Selbstbildnissen gern gezeigt habe, erläutert der Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer. Er hat in einem umfangreichen Buch zum heurigen Gedenkjahr das Phänomen Raffael neu beleuchtet. Im Interview spricht der Experte über Raffaels Arbeitsweise, seine innovative Darstellung von Natur und Schönheit, seinen Blick auf den nackten Körper und Trennlinien zwischen Kunst und Pornografie. Und er beantwortet die Frage, ob der universell begabte Renaissancemensch heute eher ein Hightech-Designer wäre.
Raffael ist neben Leonardo da Vinci und Michelangelo der Jüngste im wichtigsten Trio der Renaissance. Manches Werk des „Göttlichen“scheint uns heute fast zu schön. Höchste Zeit also, sich mit diesem Überflieger, dessen Todestag sich am 6. April 2020 zum 500. Mal jährt, wieder zu befassen. Der Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer hat zu dem Anlass eine gewichtige Biografie vorgelegt.
SN: Raffael ist nicht so jung gestorben wie James Dean oder Jean-Michel Basquiat, aber mit 37 Jahren doch früh. Ulrich Pfisterer: Und viel früher als Leonardo oder Michelangelo, die für die frühe Neuzeit unglaublich lang gelebt haben. In der zeitgenössischen Wahrnehmung ist Raffael jedenfalls nicht früh gestorben. Und im 16. Jahrhundert war im achten Jahrfünft, also zwischen 35 und 40, die maximale männliche Schaffenskraft erreicht. Interessant ist aber, dass Raffael bereits mit Mitte 30 anfing, sich Gedanken über seinen Tod zu machen und über seine Bestattung im Pantheon.
SN: Es gibt dieses frühe androgyne Selbstbildnis des sanften Schönlings. Vermutlich hat Raffael sich auf diesem Bild noch jünglingshafter gemacht, als er es damals war. Das hängt mit dem damals populären Topos der Frühbegabung zusammen. Außerdem war man der Meinung, ein schönes Äußeres spiegle sich im schönen Werk und umgekehrt. Auf jeden Fall war Raffaels Selbstbildnis auf einer mobilen Holztafel in diesen Jahren für das Publikum zwischen Urbino, Florenz und Rom ein neuartiges Werk.
SN: Mit diesem „Schönmalen“und dieser „Harmonie“haben wir heute Schwierigkeiten. Dieses Problem entsteht im 18. und 19. Jahrhundert. Raffael ist besonders in Deutschland das Ideal. Seine Malerei wird in der akademischen Ausbildung und im allgemeinen Geschmack zum Standard erhoben. Selbst die weniger gelungenen Werke erklärt man als perfekt. Das gilt auch in Frankreich. Dann kommt der Absturz, befördert von allem, was sich gegen den akademischen Ausbildungsbetrieb richtet. Die Präraffaeliten zum Beispiel wollen in die Zeit vor Raffael zurück, weil sie vermuten, dass dort die echte Emotion und der Glaube sei und nicht die Künstlichkeit.
SN: Und mit der Moderne hat das schöne Ideal ausgedient. Zu Lebzeiten Raffaels war das weder ein Problem noch ein Thema. Im Gegenteil, für seine innovativen Lösungen, die Natur und Schönheit zu verbinden, wurde er gefeiert. Außerdem war Raffael zuverlässig.
SN: Also der ideale Geschäftspartner? Absolut. Das finden wir nicht mehr so aufregend, uns interessieren heute eher problematische, auffallende Charaktere. Leonardo versucht, alles zu erforschen und hinter ein Phänomen zu blicken; Michelangelo
ist der mit sich hadernde Einzelgänger, der Dinge plant, die er nicht fertigstellen kann.
Raffael begründet den Typus des höfischen Künstlers, der seine Arbeit pünktlich abliefert. Alte Päpste wie Julius II. hatten mit ihren Monumenten für die Nachwelt keine Zeit zu vergeuden, der Nachfolger kam mit neuen Projekten – man denke nur an Michelangelos Grabmal für Julius, das unvollendet blieb.
SN: Wie ist dieser junge Raffael an die großen Aufträge im Vatikan gekommen? Er kam vermutlich als Mitarbeiter des Malers Sodoma in den Vatikan. Da zeichnet er erst Vorlagen und zeigt beim Arbeiten, wie toll er ist. Dann geht es kometenhaft nach oben. Egal was er macht – alles wird sofort zur Norm für Jahrhunderte. Er erfindet den Typus des neuzeitlichen Papstbildnisses, „Julius II. in seinem Stuhl sitzend“wird Musterbild. Denken Sie an Velázquez oder Bacon: Diese Tradition der Papstbildnisse geht auf Raffael zurück. Diese Fülle an neuen Lösungen in kürzester Zeit ist faszinierend.
SN: Ging Raffael das Malen leicht von der Hand? Nicht von ungefähr wird Raffael, dessen Nachname Sanzio an „santo“, also heilig erinnert, später als „göttlicher Künstler“gerühmt. Aber er ist nicht vom Himmel gefallen und hatte eine gute Ausbildung. Als Zeichner konnte er früh aus dem Vollen schöpfen. Erfindungsreichtum und Arbeitstempo erlaubten ihm, für andere Maler Entwürfe zu liefern. Nur bei der Ausführung sind ihm anfangs manchmal noch technische Fehler unterlaufen, das sieht man etwa im oberen Teil der „Schule von Athen“.
SN: Fehlte die Übung? Gesichert ist nur ein Fresko, das Raffael vorher gemalt hat, dann bekam er 1508 gleich diesen Riesenauftrag in den Stanzen des Vatikans. Selbst bei der Freskomalerei, deren Taktung durch den nassen Putz vorgegeben ist, schafft er es, mit immer weniger Tagwerken auszukommen. Raffael entwickelt schnelle Techniken und er hat auch eine perfekt funktionierende Werkstatt.
SN: Ein Malerleben auf der Überholspur? Das darf man sagen. Und Raffael hält dieses hohe Tempo des Produzierens durch, ohne sich zu wiederholen. Und im Gegensatz zu Michelangelo wird er eben fertig.
SN: Dabei hat Raffael sich auch an Madonnen abgearbeitet. Vor allem bevor er 1508 nach Rom gekommen ist, dann hatte er andere große Aufträge. Aber in den acht Jahren davor hat Raffael wahrscheinlich so viele Madonnen geschafft wie Perugino in seinem ganzen Leben. Das sind auch keine Variationen erfolgreicher Grundtypen wie bei Botticelli oder Perugino.
SN: Manche Typen wie die Madonna mit einem Buch tauchen häufiger auf.
Sicher, aber das einzelne Bild ist dann ein Unikat. Manchmal beziehen sich die Madonnen auch bewusst zueinander, etwa wenn sie an verschiedene Familienmitglieder gehen. Und über Madonnenbilder tritt man in den Vergleich mit anderen Malern. Es ist ja eine Herausforderung, dieses zigfach aufgegriffene Thema immer wieder interessant zu machen.
SN: Funktioniert bei Raffael eine Erotik der Unschuld? Durch die Naturbeobachtung wird die abstrakte Chiffre Frau im 15. Jahrhundert zunehmend zu einem Wesen aus Fleisch und Blut. Und die Madonna wird zur jungen Frau und Mutter und zu einem attraktiven Wesen. Damit ist dieses religiöse Hingezogensein nicht mehr so klar vom erotischen Begehren zu trennen. Bei Raffael spielt das eine Rolle, spätestens beim Bildnis der „Fornarina“mit ihrem entblößten Oberkörper – eine Art Muse oder Personifikation der Malkunst.
SN: Der nackte Körper beschäftigt Raffael in vielen Zeichnungen. Mehr noch: Wahrscheinlich hat er mit seiner Schule das pornografische Bild wenn nicht erfunden, so doch vorangetrieben. Dass sein Mitarbeiter Giulio Romano und der Kupferstecher Marcantonio Raimondi kurz nach Raffaels Tod mit Stellungskatalogen einen Skandal produzieren, kommt nicht aus dem Nichts. Raffael hat sich für die Thematik interessiert, das zeigen die erotischen Zeichnungen aus seinem Umfeld und die Malereien im Badezimmer von Kardinal Bibbiena.
SN: Zur Freude für den „zölibatär“lebenden Geistlichen? Das Pornografische hat noch einen anderen Hintergrund. Schon Leonardo da Vinci sagt: Es gibt nur wenige objektive Möglichkeiten, zu testen, ob ein Bild funktioniert. Dazu gehören das Gähnen, der Schrecken – etwa der Horror einer Schlacht –, aber auch die erotische Attraktion.
SN: Wäre das erotischere Bild auch das bessere Kunstwerk? Das ist die logische Folgerung, insofern gehört das nicht nur in die Schmuddelecke. Aufkommend im frühen 16. Jahrhundert war das eine Art künstlerische Herausforderung.
SN: Was würde ihn heute reizen? Er war ein Meister der Selbstvermarktung, als Raffael starb, hatte Michelangelo immer noch nicht kapiert, wie man sich als Künstler stilisieren kann, um Wirkung zu erzielen. Wenn Sie an heutige Künstler wie Gerhard Richter denken: Der ist marktorientiert, lässt seine Homepage pflegen, damit einem Sammler mit wenigen Klicks klar ist, was er braucht. Das würde Raffael vermutlich interessieren.
SN: Mit seiner Geschwindigkeit könnte er auch Autos oder technische High-End-Produkte entwerfen. Das würde er sicher nebenher tun. Man vermutet ja, dass er Geschirr entworfen hat. Als Architekt war er auch im Einsatz. Wahrscheinlich hätte Raffael ein universales Kunst-, Architektur- und Designbüro, und er wäre ein smarter Global Player.