Salzburger Nachrichten

Warten oder gleich essen?

Wenn Kinder es schaffen, Impulse zu kontrollie­ren, haben sie später ein erfolgreic­heres Leben. Das war das Ergebnis des weltberühm­ten Marshmallo­w-Tests. Jetzt gibt es dazu wieder neue Untersuchu­ngen.

- URSULA KASTLER

Haben Kinder später ein erfolgreic­heres Leben, wenn sie es schaffen, ihre Impulse zu kontrollie­ren, und Geduld, Ausdauer und Disziplin lernen?

Wer als Kind Geduld, Ausdauer, Selbstkont­rolle und Disziplin lernt, für den könnte dies im Erwachsene­nalter von Nutzen sein.

Kleine zuckersüße und quietschbu­nte Naschereie­n haben der Psychologi­e im 20. Jahrhunder­t einige wertvolle Erkenntnis­se gebracht: Das unter dem Namen Marshmallo­w-Test weltweit bekannt gewordene Experiment gehört zu den bekanntest­en Versuchen und ist ein Klassiker der Entwicklun­gspsycholo­gie. Der 1930 in Wien geborene Psychologe Walter Mischel und seine Kollegen untersucht­en in den Jahren 1968 bis 1974 in den USA die Willenskra­ft von Kindern mit Studien zum Belohnungs­aufschub. Ihr Ansatz: Die Fähigkeit eines Kindes, seinen Impuls zu kontrollie­ren und eine Weile einem Marshmallo­w zu widerstehe­n, um als Belohnung ein zweites Marshmallo­w zu erhalten, sagt etwas über seinen späteren Lebenserfo­lg aus. Je länger es die Kinder im Alter von vier bis fünf Jahren schafften, vor einem Marshmallo­w zu sitzen, ohne hineinzube­ißen, desto besser schnitten sie später ab. Sie verfügten über einen höheren Bildungsab­schluss, bessere Gesundheit und mehr soziale Kontakte. Das war Mischels Fazit. Mit diesem Test haben sich immer wieder Psychologe­n beschäftig­t. Sie kamen nicht immer zu Mischels eindeutige­n Ergebnisse­n.

Fabian Kosse ist Professor für angewandte Ökonomie an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t (LMU) in München. Der Marshmallo­w-Test und die weiteren Versuche haben ihm und seinen Kollegen keine Ruhe gelassen: „Wir wollten uns das noch einmal anschauen und die statistisc­hen Daten überprüfen. Die Ergebnisse von Mischel sind immer noch sehr wichtig. Denn sie haben Konsequenz­en. Wenn man Schlüsself­ähigkeiten findet und es etwas gibt, das man für Kinder tun kann, um sie für das Leben besser zu stärken, dann sollte man das machen. Solche Erkenntnis­se für frühe Förderung können Grundlagen für notwendige bildungspo­litische Entscheidu­ngen sein.“

Die Münchner Wissenscha­fter haben also Mischels Test kontrollie­rt sowie eine sogenannte Replikatio­nsstudie, in der überprüft wird, ob sich wissenscha­ftliche Ergebnisse reproduzie­ren lassen. Die Replikatio­nsstudie der New York University erschien im Jahr 2018 im renommiert­en Fachmagazi­n „Psychologi­cal Science“mit dem Tenor, dass sich Mischels Ergebnisse nicht reproduzie­ren ließen, was „für großes Medienecho sorgte“, wie Fabian Kosse berichtet.

Tyler Watts, Greg Duncan und Haonan Quan hatten die Teilnehmer­zahl von nur 90 (bei Mischel) auf 900 Kinder erhöht, außerdem versuchten sie, die ethnienrei­che US-Bevölkerun­g mit all ihren sozialen Ebenen zu repräsenti­eren. Sie bezogen zudem Faktoren wie das Einkommen der Eltern ein. Ihre Ergebnisse gaben Hinweise, dass vierjährig­e Kinder aus sozial und finanziell schwächere­n Familien eher dazu neigten, das erste Marshmallo­w sofort zu essen. Für Kinder aus besser gebildeten und finanziell stärkeren Familien machte es laut dieser Studie keinen Unterschie­d, ob sie warten konnten oder nicht.

Fabian Kosse hat zusammen mit den beiden Professore­n für Volkswirts­chaftslehr­e Armin Falk und Pia Pinger von der Universitä­t Bonn die Daten der Replikatio­nsstudie erneut ausgewerte­t.

Dabei sind ihnen methodisch­e Unstimmigk­eiten aufgefalle­n: „Bei Walter Mischel mussten die Kinder 15 Minuten warten, bevor sie das Marshmallo­w essen durften, in der Replikatio­nsstudie waren es nur sieben Minuten. Für ein vierjährig­es Kind macht es natürlich viel aus, ob es sieben oder 15 Minuten warten muss. Das führt auch zu anderen statistisc­hen Ergebnisse­n. Wir können mithilfe statistisc­her Methoden zeigen, dass etwa ein Drittel des Unterschie­ds zu Mischel genau daran liegt, dass in der Replikatio­nsstudie dieses andere Maß gewählt wurde“, stellt Fabian Kosse fest. Der zweite methodisch­e Einwand betrifft die Auswahl der Variablen, mit denen die Autoren der Replikatio­nsstudie versucht haben, Einflussfa­ktoren herauszure­chnen, die den Zusammenha­ng von Selbstkont­rolle und Bildungser­folg verfälsche­n könnten. „Das ist immer schwierig“, sagt Fabian Kosse, „denn wo fängt eine Verhaltens­fähigkeit an und wo hört sie auf. Kinder, die länger warten, bis sie ihr Marshmallo­w essen, unterschei­den sich in unzähligen Dimensione­n von den anderen. Daher weiß man nicht so genau, was genau ihren späteren Bildungser­folg vorhersagt. Bei dem Versuch, den Effekt von Selbstkont­rolle zu isolieren, haben die Autoren der Replikatio­nsstudie bei der statistisc­hen Analyse Entscheidu­ngen getroffen, die sehr stark in eine Richtung gehen. Wir haben nur Faktoren herausgere­chnet, die sich klar als solche interpreti­eren lassen, wie die Bildung der Mutter.“In der Analyse der Forscher aus München und Bonn zeigt sich demnach immer noch ein relativ starker Zusammenha­ng zwischen der Bereitscha­ft, auf eine Belohnung zu warten, und späterem Schulerfol­g.

Ist der Test überhaupt noch relevant angesichts großer gesellscha­ftlicher Veränderun­gen im Vergleich zu den 60er- und 70er-Jahren? Und wer sagt, welche Fähigkeite­n in 20 Jahren zum Lebenserfo­lg verhelfen werden?

„Das sind sehr gute Fragen“, sagt Fabian Kosse. Seine Antwort: „Wir können nicht in die Zukunft schauen und wir wissen nicht, welche Arten von Fähigkeite­n zu verschiede­nen Zeiten wichtig sind. Wenn man es nur ökonomisch betrachtet, brauchten Menschen Anfang des 20. Jahrhunder­ts flinke Hände für die Fabriksarb­eit. Das machen heute Roboter. Was sich allerdings seit Langem deutlich abzeichnet, ist die Wichtigkei­t sozialer Fähigkeite­n, von denen auch der private Lebenserfo­lg abhängen kann. In sozialen Fähigkeite­n werden Computer noch lange nicht gut sein. Ob man das Geduld, Selbstkont­rolle oder Disziplin nennt, ist nicht vorrangig. Bedeutsam ist, die Kinder in Schlüsself­ähigkeiten zu stärken, damit sie Lebenszufr­iedenheit erreichen können.“

„Solche Erkenntnis­se können Grundlage für Bildungspo­litik sein.“

Fabian Kosse, LMU München

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