Migration war gestern, Integration ist heute
Auch für die ÖVP von Sebastian Kurz wird es Zeit, ihre Schwerpunktsetzung anzupassen.
Türkis-Grün heißt Kampf gegen illegale Migration und Klimaschutz. Laut Bundeskanzler Sebastian Kurz zählt das zum Besten, was seine ÖVP sowie die Grünen zusammentragen konnten. Das sagt viel aus über die Volkspartei: Ihr Beitrag, der „Kampf gegen illegale Migration“, ist nicht mehr realen Herausforderungen geschuldet, sondern Zwängen, denen sie sich selbst ausgesetzt hat.
Angefangen hat die Geschichte 2015 mit der Flüchtlingskrise. Zwei Jahre später übernahm Kurz die Partei und richtete sie ganz auf dieses Thema aus: Er sprach von der „Schließung der Balkanroute“und dem „Stopp der Zuwanderung ins Sozialsystem“. Dafür erhielt er 2017, aber auch 2019 sehr viele Stimmen. Also muss er weiter liefern. Das ist eine Art Wählerauftrag, mit dem er konfrontiert ist.
Allein: Die realen Herausforderungen ändern sich. Die Flüchtlingskrise ist vorbei. Die Wanderungsbewegungen haben sich wieder normalisiert. Nach Österreich kommen wieder so viele Fremde wie zuvor, und davon sind wiederum mehr als 80 Prozent Europäer. Aufgriffe wegen illegaler Grenzübertritte sind überschaubar und auch die Zahl der Asylbewerber ist so niedrig wie schon lang nicht mehr: Von Jänner bis November 2019 registrierte das Innenministerium 11.223 Antragsteller. Weniger waren es zuletzt 2010.
Migration ist bei Weitem nicht mehr das größte Problem, mit dem die Politik konfrontiert ist. Neben anderen Fragestellungen gehört stattdessen vielmehr die Integration dazu: Die Schaffung eines eigenen Ministeriums dafür, mit Susanne Raab (ÖVP) als Ressortchefin, signalisiert immerhin, dass das wahrgenommen wird. Was Raab daraus machen kann, ist das andere. Sie ist Expertin, Integration ist jedoch eine klassische Querschnittmaterie, die bei der Kinderbetreuung anfängt, über Schulen, Soziales und den Arbeitsmarkt bis hin zum Staatsbürgerschaftswesen reicht. Da müssen alle Ministerien zusammenspielen.
Überall gibt es Handlungsbedarf: Auch Höherqualifizierten wird es zum Beispiel schwer gemacht, Österreicher zu werden. Warum sollen sie hier also Fuß fassen und den Wirtschaftsstandort stärken? Beim Bildungswesen hapert es wiederum daran, dass es kaum gelingt, Jugendliche unabhängig von ihrer Herkunft weiterzubringen. Ein Ergebnis: Mehr als die Hälfte der vorzeitigen Schulabbrecher haben einen Migrationshintergrund. Nur ein Bruchteil kommt dagegen zu einer Matura oder einem Uni-Abschluss. Die Konsequenzen solcher Defizite sind zahlreich. So ist es kein Wunder, dass relativ viele Arbeitslose und Mindestsicherungsbezieher ausländische Staatsbürger sind und nur schwer aus diesen krisenhaften Rollen herausfinden.