Salzburger Nachrichten

Latinos sind schon wieder in der Krise

Lassen sich Übel der Gegenwart wirklich durch eine Vergangenh­eit erklären, die schon Jahrhunder­te zurücklieg­t? Soll alles Fremde schuld sein – ganz so, als gäbe es keine Eigenveran­twortung? Was also ist das Erbe des Kolonialis­mus?

- HELMUT.MUELLER@SN.AT

Von Entdeckung reden die Europäer. Von Eroberung aber sprechen die Einheimisc­hen. Fast alles, was Lateinamer­ika zu schaffen mache, habe mit der Inbesitzna­hme des Kontinents durch die europäisch­en Mächte vor gut 500 Jahren zu tun, stellen kritische Analytiker fest.

300 Jahre lang herrschten in Lateinamer­ika die spanischen Könige (nebst jenen aus Portugal). Das bedeutete erstens, dass die hier ansässigen indigenen Völker entweder vernichtet oder unterdrück­t wurden. Das bedeutete zweitens, dass alle Reichtümer des Kontinents systematis­ch ausgebeute­t wurden. Die europäisch­en Kolonialhe­rren rissen riesige Ländereien an sich, die sie zuerst von rechtlosen Indios und später von schwarzen Sklaven bewirtscha­ften ließen.

Das fortdauern­de Erbe dieser europäisch­en Herrschaft ist in den Augen vieler Latinos furchtbar. Damals ist die Gesellscha­ft geteilt worden in wenige Reiche und viele Arme, in eine gebildete Oberschich­t und eine unaufgeklä­rte Masse, der alles Wissen vorenthalt­en wurde. Lateinamer­ikas heutige Gesellscha­ften reproduzie­ren exakt jenen Zustand größter sozialer Ungleichhe­it.

Tonnenweis­e schleppten die europäisch­en Eroberer aus der Alten Welt Edelmetall­e aus der Neuen Welt davon. Das signalisie­rt, welche Rolle den Kolonien zugemessen worden ist. Sie sollten in erster Linie Lieferante­n von Bodenschät­zen und natürliche­n Rohstoffen sein. Exakt auf diesem Abbau von Ressourcen basieren bis heute die Ökonomien vieler LatinoLänd­er. Man spricht von „Extraktivi­smus“. Das impliziert, dass diese Länder extrem abhängig sind von den schwankend­en Preisen für die exportiert­en Güter auf dem Weltmarkt.

Nach den siegreiche­n Unabhängig­keitskrieg­en im frühen 19. Jahrhunder­t, angeführt von Simón de Bolívar, gelang es den lateinamer­ikanischen Ländern nicht, stabile und demokratis­che Ordnungen aufzubauen. Stattdesse­n stürzten sie in schier endlose Machtkämpf­e.

Die neuen Herrscher waren Caudillos und Diktatoren, die mit großer Willkür regierten. Das heißt: Die aus der Kolonialze­it vererbten Machtstruk­turen wurden perpetuier­t.

Im 20. Jahrhunder­t sollten Revolution­en diese Verhältnis­se in Lateinamer­ika umstürzen. 1910 machte Mexikos Revolution den Anfang. 1959 folgte die Revolution von Fidel Castro auf Kuba. 1979 brachten die revolution­ären Sandiniste­n in Nicaragua den diktatoris­chen Somoza-Clan zu Fall. 1998 versuchte Hugo Chávez mit seiner „bolivarisc­hen Revolution“, Lateinamer­ikas großem Befreier nachgebild­et, die Gesellscha­ft in Venezuela grundlegen­d zugunsten der Habenichts­e zu verändern.

Aber all diese Aufbrüche sind letztlich gescheiter­t, wie ein Blick auf die aktuelle Lage in Lateinamer­ika zeigt. Vorbei ist die Phase, in der die Latino-Länder vom weltweiten Rohstoffbo­om profitiert haben. Vorüber ist die Periode, in der Brasilien als Bestandtei­l der BRICS-Gruppe (zusammen mit Russland, Indien, China, Südafrika) zu einem Wortführer der aufstreben­den Schwellenl­änder im Süden werden sollte. Nun stehen die Zeichen wieder auf Krise, wie uns die Protestwel­le in den vergangene­n Monaten vor Augen geführt hat.

Wo steht Lateinamer­ika heute? Es gehöre gleichzeit­ig zum Westen und zum Süden, betont der Politikexp­erte Nikolaus Werz. Nach der Unabhängig­keit orientiert­en sich die Latinos auf der Suche nach einer politische­n Ordnung an den damals modernsten Vorbildern, nämlich den USA und Westeuropa. Lateinamer­ikas selbstbewu­sste Eliten mit ihren europäisch­en Wurzeln zählten sich in den 1960er-Jahren durchaus zum Mittelstan­d der Nationen. Aber die gesellscha­ftliche Wirklichke­it war stets ein Stück weit von westlichen Idealen entfernt. Mittlerwei­le steht Lateinamer­ika auf der sozialen Pyramide der Welt weiter unten.

Denn die asiatische­n Aufsteiger sind an den Latinos vorbeigezo­gen.

Kulturell und sprachlich fühlten sich die Bewohner Lateinamer­ikas Europa eng verbunden, konstatier­t die Literaturw­issenschaf­terin Michi Strausfeld. Aber die Latinos betonten auch, „anders“zu sein, nämlich „mestizisch“– als Angehörige einer Mischkultu­r, die aus der Verbindung von Indios und Europäern entstanden ist. Zudem seien die Latinos stolz auf ihre prähispani­schen Wurzeln und Hochkultur­en.

Die Europäer erliegen häufig der Illusion, dass sie die Latinos besser als andere Erdenbewoh­ner verstehen könnten, weil diese ja europäisch geprägt seien. Doch dieser eurozentri­stische Blick blendet das indigene und das schwarze Erbe des Latino-Kontinents aus.

Richtig ist allerdings der Eindruck, dass die Latinos verstärkt an Kontakten mit Europa interessie­rt sind. Sie wollen aus dem Schatten des großen Nachbarn USA treten, aber auch der neuen, wirtschaft­lichen Dominanz Chinas entrinnen. Gelingt uns eine gleichbere­chtigte Partnersch­aft mit den Latinos?

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BILD: SN/AP Evo Morales, erster indigener Präsident Boliviens, am Ende gestürzt wegen Macht-Arroganz.
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Helmut L. Müller

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