Latinos sind schon wieder in der Krise
Lassen sich Übel der Gegenwart wirklich durch eine Vergangenheit erklären, die schon Jahrhunderte zurückliegt? Soll alles Fremde schuld sein – ganz so, als gäbe es keine Eigenverantwortung? Was also ist das Erbe des Kolonialismus?
Von Entdeckung reden die Europäer. Von Eroberung aber sprechen die Einheimischen. Fast alles, was Lateinamerika zu schaffen mache, habe mit der Inbesitznahme des Kontinents durch die europäischen Mächte vor gut 500 Jahren zu tun, stellen kritische Analytiker fest.
300 Jahre lang herrschten in Lateinamerika die spanischen Könige (nebst jenen aus Portugal). Das bedeutete erstens, dass die hier ansässigen indigenen Völker entweder vernichtet oder unterdrückt wurden. Das bedeutete zweitens, dass alle Reichtümer des Kontinents systematisch ausgebeutet wurden. Die europäischen Kolonialherren rissen riesige Ländereien an sich, die sie zuerst von rechtlosen Indios und später von schwarzen Sklaven bewirtschaften ließen.
Das fortdauernde Erbe dieser europäischen Herrschaft ist in den Augen vieler Latinos furchtbar. Damals ist die Gesellschaft geteilt worden in wenige Reiche und viele Arme, in eine gebildete Oberschicht und eine unaufgeklärte Masse, der alles Wissen vorenthalten wurde. Lateinamerikas heutige Gesellschaften reproduzieren exakt jenen Zustand größter sozialer Ungleichheit.
Tonnenweise schleppten die europäischen Eroberer aus der Alten Welt Edelmetalle aus der Neuen Welt davon. Das signalisiert, welche Rolle den Kolonien zugemessen worden ist. Sie sollten in erster Linie Lieferanten von Bodenschätzen und natürlichen Rohstoffen sein. Exakt auf diesem Abbau von Ressourcen basieren bis heute die Ökonomien vieler LatinoLänder. Man spricht von „Extraktivismus“. Das impliziert, dass diese Länder extrem abhängig sind von den schwankenden Preisen für die exportierten Güter auf dem Weltmarkt.
Nach den siegreichen Unabhängigkeitskriegen im frühen 19. Jahrhundert, angeführt von Simón de Bolívar, gelang es den lateinamerikanischen Ländern nicht, stabile und demokratische Ordnungen aufzubauen. Stattdessen stürzten sie in schier endlose Machtkämpfe.
Die neuen Herrscher waren Caudillos und Diktatoren, die mit großer Willkür regierten. Das heißt: Die aus der Kolonialzeit vererbten Machtstrukturen wurden perpetuiert.
Im 20. Jahrhundert sollten Revolutionen diese Verhältnisse in Lateinamerika umstürzen. 1910 machte Mexikos Revolution den Anfang. 1959 folgte die Revolution von Fidel Castro auf Kuba. 1979 brachten die revolutionären Sandinisten in Nicaragua den diktatorischen Somoza-Clan zu Fall. 1998 versuchte Hugo Chávez mit seiner „bolivarischen Revolution“, Lateinamerikas großem Befreier nachgebildet, die Gesellschaft in Venezuela grundlegend zugunsten der Habenichtse zu verändern.
Aber all diese Aufbrüche sind letztlich gescheitert, wie ein Blick auf die aktuelle Lage in Lateinamerika zeigt. Vorbei ist die Phase, in der die Latino-Länder vom weltweiten Rohstoffboom profitiert haben. Vorüber ist die Periode, in der Brasilien als Bestandteil der BRICS-Gruppe (zusammen mit Russland, Indien, China, Südafrika) zu einem Wortführer der aufstrebenden Schwellenländer im Süden werden sollte. Nun stehen die Zeichen wieder auf Krise, wie uns die Protestwelle in den vergangenen Monaten vor Augen geführt hat.
Wo steht Lateinamerika heute? Es gehöre gleichzeitig zum Westen und zum Süden, betont der Politikexperte Nikolaus Werz. Nach der Unabhängigkeit orientierten sich die Latinos auf der Suche nach einer politischen Ordnung an den damals modernsten Vorbildern, nämlich den USA und Westeuropa. Lateinamerikas selbstbewusste Eliten mit ihren europäischen Wurzeln zählten sich in den 1960er-Jahren durchaus zum Mittelstand der Nationen. Aber die gesellschaftliche Wirklichkeit war stets ein Stück weit von westlichen Idealen entfernt. Mittlerweile steht Lateinamerika auf der sozialen Pyramide der Welt weiter unten.
Denn die asiatischen Aufsteiger sind an den Latinos vorbeigezogen.
Kulturell und sprachlich fühlten sich die Bewohner Lateinamerikas Europa eng verbunden, konstatiert die Literaturwissenschafterin Michi Strausfeld. Aber die Latinos betonten auch, „anders“zu sein, nämlich „mestizisch“– als Angehörige einer Mischkultur, die aus der Verbindung von Indios und Europäern entstanden ist. Zudem seien die Latinos stolz auf ihre prähispanischen Wurzeln und Hochkulturen.
Die Europäer erliegen häufig der Illusion, dass sie die Latinos besser als andere Erdenbewohner verstehen könnten, weil diese ja europäisch geprägt seien. Doch dieser eurozentristische Blick blendet das indigene und das schwarze Erbe des Latino-Kontinents aus.
Richtig ist allerdings der Eindruck, dass die Latinos verstärkt an Kontakten mit Europa interessiert sind. Sie wollen aus dem Schatten des großen Nachbarn USA treten, aber auch der neuen, wirtschaftlichen Dominanz Chinas entrinnen. Gelingt uns eine gleichberechtigte Partnerschaft mit den Latinos?