Interview: Theaterikone Bob Wilson
Ein Regie-Magier kehrt zurück nach Salzburg. Erinnerungen an ein seltsames, überwältigendes Gespräch.
Die Tränen kommen unerwartet. Der Meister der stilisierten Klarheit, der szenischen Reduktion wird von einer Erinnerung heimgesucht, deren Wirkung stärker ist als sein auf Architektur geschultes Denken. „Und dann war da Jessye“, sagt er. Es ist jener Moment, als ein Künstlergespräch in Überwältigung umschlägt.
Wir befinden uns in einem kleinen Raum mit Blick über die Dächer der Salzburger Altstadt. Robert Wilson residiert in der Privatwohnung einer Salzburger Künstlerin. Eigentlich würde man für ein Interview mit einem 78-Jährigen dieser Prominenz den neutralen Raum der Stiftung Mozarteum wählen. Schließlich bildet Robert Wilsons Neuinszenierung von Händels „Messias“in der Bearbeitung von Wolfgang Amadé Mozart, die am kommenden Donnerstag bei der Mozartwoche Premiere feiert, den Anlass dieses Gesprächs. Doch sein junger Assistent hat diesen Ort für das Treffen vorgeschlagen. Er öffnet die Tür, führt in den obersten Stock und bittet um Geduld: Der Meister arbeite noch. Eine knappe Viertelstunde stehen wir im Vorzimmer und vernehmen das Geräusch eines Staubsaugers im Nebenraum.
Der Staubsauger verstummt, Robert Wilson hat jetzt Zeit. Tatsächlich entfernt er noch einige Zeichnungen, die er gemeinsam mit seinem Assistenten angefertigt hat. Wilson trägt wie so oft ein schwarzes T-Shirt, alles sehr formal. Auch die Erläuterungen passen zur Ästhetik seiner Arbeiten. „Es ist abstrakt“, beginnt er über den „Messias“zu erzählen. „Sie haben keine Storyline oder Situation abzubilden. Es ist eine architektonische Anlage von Mathematik und Musik. Jemand ist der Erlöser. Als Regisseur hat man zwar eine enorme Freiheit. Aber es ist schwierig: Einerseits versucht man, einen Meister zu respektieren, andererseits will man kein Sklave werden. Man verhandelt mit einem Genie wie Mozart, ich kann das Werk nicht umschreiben. Das wäre falsch.“
Für jemand wie Wilson müsse das Oratorium doch ein perfektes Arbeitsfeld darstellen, werfe ich ein. Der 1941 in Texas, USA, geborene Regisseur spielt mit Licht und Schatten, setzt spärliche, klare Gesten ein. Die Deutungs- und Assoziationswut vieler Regiearbeiten unserer Zeit interessiert ihn kaum. Zwei Mal inszenierte Robert Wilson Oper in Salzburg, 1995 „Herzog Blaubarts Burg“und „Erwartung“, zwei Jahre später „Pelléas et Mélisande“– Werke mit sparsamer Bühnenaktion.
Sehen und Hören spiele in seinen Opernarbeiten eine gleichberechtigte Rolle, sagt Wilson. „In meiner Sensibilität höre ich oft etwas nicht, weil ich visuell abgelenkt bin, wenn mir Produktionen zu geschäftig sind. Es passiert zu viel an Bühnenaktion, an Licht, es passiert zu viel im Kopf der Menschen. Hier, in diesem kleinen Raum, ohne Licht, schließe ich meine Augen und konzentriere mich besser, weil mein Auge den hellsten Punkt ansteuert.“
Der Assistent unterbricht unser Gespräch. „Die linke Seite ist gut, hängen Sie die rechte Seite ab“, ordnet Wilson dem jungen Mann an, der an zwei Schwarz-Weiß-Skizzen Hand anlegt. Der Assistent klebt weiter, während Wilson das Gespräch wieder aufnimmt. „Die Herausforderung für mich ist: Kann ich etwas kreieren, das das Publikum sieht und dabei hilft, besser zu hören, als ob ich meine Augen schließen würde? Ich brauche einen Denkraum, der meine Gedanken freisetzt.“
Mit der Zuschreibung „minimalistisch“kann der Regisseur wenig anfangen. „Ich sehe meine Arbeit nicht als minimalistisch. Klassische Architektur ist sehr simpel. Es geht um Gebäude und Bäume. Der Baum hilft mir dabei, ein Gebäude zu sehen. Und das Gebäude hilft mir, den Baum zu sehen.“In der klassischen Architektur gehe es darum, Linien und Raum zu zeichnen. Klingt spannend. Aber was hat das mit Mozart zu tun? „Mozart hat Werke von Gebäuden und Bäumen erschaffen. Das ist klassische Architektur“, erläutert Wilson.
Ein weiterer Parameter in der Arbeit von Robert Wilson ist das Stilisierte, die an japanische Theaterformen erinnernde Strenge und die Überzeichnung des Expressionismus. „Meine ganze Arbeit ist formell. Es erscheint immer absurd, einen Darsteller auf der Bühne naturalistisch spielen zu sehen. Es ist nicht natürlich.“Um diesen Zugang auf die Oper zu übertragen, verwendet der Regisseur ein Beispiel. „Man singt nicht, wie man auf der Bühne singt. Man singt auf der Straße, wenn man auf einen Bus wartet. Man sitzt wiederum auf der Bühne nicht, als warte man auf einen Bus.“
Und nun, in diesen Erläuterungen über Bühnenkunst, nähern wir uns dem unvermittelten emotionalen Teil des Gesprächs. „In den 1970er-Jahren sah ich Jessye Norman in einem Konzert in Paris. Sie war noch jung, am Anfang ihrer Karriere. Da waren fünf Sänger, vier davon wirkten, als ob sie auf der Straße auf einen Bus warten würden. Und dann war da Jessye.“Robert Wilson bricht ab, ringt nach
Luft. Wenige Wochen zuvor war Jessye Norman gestorben, die Opernsängerin, die eine kreative Beziehung mit Robert Wilson verband. „Und sie war so schön, sitzend, als ob sie singen würde.“Er bricht in Tränen aus. „Heute ist ein Memorial für sie in der Metropolitan Opera. Ich sah sie hier bei einem Konzert in Salzburg. Das Publikum war zu Tränen gerührt.“
Und Robert Wilson erzählt eine Geschichte über Jessye Norman, die mehr über die Bühnenwirkung der Mezzosopranistin ausdrückt als jeder Nachruf. Die Geschichte spielt in den Wochen nach „Nine-Eleven“im Herbst 2001, Wilson und Norman arbeiteten gerade an der „Winterreise“. „Sie rief mich am Morgen an und sagte, sie könne heute nicht singen. Und ich sagte, Jessye, das ist die Zeit, in der wir Ihre Stimme hören müssen.“Wilson fängt sich, er wirkt gefasst. „Sie sagte: ,Wenn ich singe, werde ich weinen.‘“Versucht habe es Jessye Norman dennoch, am Abend sei sie auf der Bühne gestanden, erzählt Wilson und findet wieder Fassung. „Nach dem dritten oder vierten Lied begann sie zu weinen. Der Pianist stoppte. Nach drei oder vier Minuten hörte sie zu weinen auf. Und dann stand sie für zehn Minuten in Stille, diese ...“– Robert Wilson beginnt zu singen – „... nubische Königin. Und das Publikum begann zu weinen. Die Emotion, die sie fühlte, war so mächtig, dass sie das Publikum zu Tränen rührte.“Die Emotionalität, die diesen Regie-Architekten erfasst, erfüllt den Moment mit purer Magie. Es ist, als stünde Jessye Norman leibhaftig vor uns.
Zuletzt spricht der Regisseur noch über Licht, das für ihn wichtigste Element. „Das erste Ding, das ich mache, ist auszuleuchten. Wenn ich es nicht ausleuchten würde, wüsste ich nicht, was zu tun ist. Damit strukturiere ich es.“Kurz darauf bricht er ab. „Ich muss meine Arbeit beenden.“Ich hätte jetzt einiges nachzudenken, entgegne ich Robert Wilson. Er verlässt den Raum: „Denken Sie nicht zu viel!“