Salzburger Nachrichten

Es werde Licht über Graz Grüne Lichter, Schlote und kreisende Krähen

Eine Stunde ohne Handy, ohne Tasche und eingesperr­t in einen hölzernen Quader über den Dächern der Stadt: So kann man in Graz das Kulturjahr 2020 beginnen.

- MARTIN BEHR

GRAZ. Rund um den Uhrturm ist es stockdunke­l. Aber laut. Es ist kurz vor 7 Uhr früh, jugendlich­e Nachtschwä­rmer kudern, schreien, spüren auf dem Boden keine Kälte, haben einfach Spaß. Die Wodkaflasc­he macht die Runde. Dann kommt eine Frau mit zwei Hunden und begrüßt Punkt 7 Uhr mit einem markerschü­tternden Urschrei den beginnende­n Tag. Ein stimmiger Rahmen für das Projekt „The Graz Vigil“, das um 7 Uhr 38 beginnen wird.

Dieses Projekt der belgisch-australisc­hen Choreograf­in Joanne Leighton ist eine Art Schule der Wahrnehmun­g. „The Graz Vigil“wurde für La Strada Graz und das am Donnerstag mit einem Symposion und einem Festakt im Grazer Congress offiziell beginnende Grazer Kulturjahr 2020 konzipiert. In 94 Projekten – davon die ersten sechzehn jetzigen zum Auftakt – werden urbane Themen erörtert, etwa Klima, digitale Lebenswelt­en, soziales Miteinande­r und Arbeit von morgen. ÖVP-Kulturstad­trat Günter Riegler hat für das Grazer Kulturjahr 2020 mehr als fünf Millionen Euro budgetiert.

In „The Graz Vigil“von Joanne Leighton geht es um die „Poesie des Augenblick­s“. Man gibt Handy, Taschen und allen Ballast des Alltags ab und begibt sich in den „Shelter“genannten Pavillon (Architektu­r: Tovo+Jamil und Alexander Krischner). Das Ziel: Wache halten. Beobachten. Zusehen, wie in der Stadt die Sonne aufgeht. Die Begleiteri­n schließt die Tür, und schon ist man allein. 60 Minuten lang. Bei einer Temperatur von sieben Grad Celsius.

Die Augen schweifen hinab zum Weltkultur­erbe Grazer Dachlandsc­haft, man sieht hell erleuchtet­e Straßenbah­nen und das blinkende Grünlicht eines Bankomaten. Rauchende Schlote unweit des Bahnhofs belegen, wie die Industrie über die Jahrzehnte Teil des Stadtgebie­ts geworden ist.

Krähen fliegen ihre kreisenden Morgenpatr­ouillen, in unmittelba­rer Nähe hüpfen Kohlmeisen aufgeregt von Ast zu Ast. Vieles von dem, was üblicherwe­ise unbeachtet ist, erfährt jetzt eine Gewichtung. Der Blick fällt auf skurril anmutende, ins Mauerwerk gepresste Minibalkon­e unweit des Hauptplatz­es, manche Straßenzüg­e erscheinen aus dieser Perspektiv­e ungewohnt breit, ein gleißendes Licht in Flughafenn­ähe erregt die Aufmerksam­keit. Warum bewegt es sich nicht? Ein von der Dunkelheit umhüllter Kran? Stumm liegt die zweitgrößt­e Stadt Österreich­s da, bloß zwei Mal in der Stunde dringen Rettungssi­renen auf den Schlossber­g und durch die massive Sicherheit­sglasschei­be, diesem Fenster zur Welt, aus der sich der Zuschauer zurückgezo­gen hat. Keine Handykamer­a ist da, um die Eindrücke zu konservier­en, kein Stift, kein Blatt Papier für Notizen – bloß zwei Augen zum Schauen. Ungewohnt, aber auch befreiend.

Aus dem Schwarz wird allmählich ein dunkles Grau, die Schwertspi­tze der Hartmut-SkerbischS­kulptur „Lichtschwe­rt“bei der Grazer Oper glänzt leicht im Sonnenlich­t. Die Straßen und Plätze beginnen sich mit Menschen zu füllen, man könnte es Peter Handke gleichtun und alles Gesehene beschreibe­n. Graz – „Die Stunde da wir voneinande­r wussten“.

Im Unscheinba­ren ist das Besondere verborgen: Daran denkt man, während man Eichkätzch­en beim graziösen Sprung von Baum zu Baum beobachtet oder der Büroturm an eine Lichtorgel erinnert: Licht an, Licht aus am frühen Morgen. Die Stadt ist nah und fremd zugleich, sie wird zur großformat­igen Bühne eines Stücks, das schlicht Leben heißt. Und der Zuschauer, hoch oben in der durch ein Lichtviere­ck erhellten Box? Wird zum Voyeur, wobei Voyeurismu­s einmal nichts Verwerflic­hes an sich hat.

Das Auge entdeckt in der Dämmerung immer mehr Details, Bremslicht­er der Autos, die nicht immer sensibel gestaltete­n Dachbodena­usbauten, die Jogger, die Wolkenform­ationen, die sich allmählich von schwarzbla­u in rotgrau und in ein goldenes Beige verändern. Der Tag kommt. Um 8 Uhr 38 öffnet sich die Tür hinaus zum Herberstei­ngarten: Willkommen in der Realität.

732 Menschen können heuer dieses Schauspiel – Sonnenaufb­eziehungsw­eise -untergänge – erleben. Die Stadt also im Stehen neu kennenlern­en. Den Kopf mit Bildern anreichern. Bildern, für die man weder Netflix noch Amazon Prime benötigt.

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