Salzburger Nachrichten

Die Unmenschli­chkeit einer übertriebe­nen Digitalisi­erung

Eine neue Technik lässt aufhorchen. Gesichter können anhand von Social-Media-Daten identifizi­ert werden. Experten sehen eine Grenze überschrit­ten.

- THOMAS.HOFBAUER@SN.AT

Jeden beliebigen Menschen binnen Millisekun­den aus einem Kamerabild identifizi­eren: Clearview AI heißt das US-Unternehme­n, dessen Technologi­e seit Tagen Aufsehen erregt. Es soll drei Milliarden Bilder von Menschen aus dem Internet zusammenge­stellt haben, um eine umfassende Datenbank zur Gesichtser­kennung zu entwickeln. Aus öffentlich zugänglich­en Bildern von Facebook, YouTube und ähnlichen Diensten. 600 Behörden habe man den Service bereits angeboten.

Wie mächtig die Software ist, zeigt das Beispiel der Indiana State Police, die im Februar vergangene­n Jahres begann, mit Clearview zu experiment­ieren. Sie lösten einen Fall innerhalb von 20 Minuten nach Verwendung der Software. Einem Mann wurde bei einem Streit in einem Park in den Bauch geschossen. Ein Passant zeichnete das Verbrechen mit dem Handy auf, sodass die Polizei ein Standbild des Bewaffnete­n hatte. Clearview lieferte sofort einen Treffer, das System der Polizei hatte versagt, weil der Bewaffnete keinen Führersche­in hatte, nie als Erwachsene­r verhaftet wurde und darum sein Bild in keiner Regierungs­datenbank war. Clearview hingegen identifizi­erte ihn anhand eines Videos, das jemand in den sozialen Medien gepostet hatte.

Einem Bericht der „New York Times“zufolge hat das Unternehme­n auch den Prototyp einer Computerbr­ille mit Gesichtser­kennungsfu­nktion entwickelt – es gebe aber keine Pläne, diese zu vermarkten.

Experten sind alarmiert und sehen eine Grenze überschrit­ten. Denkt man diese Technologi­e weiter, könnte man die Software mit Überwachun­gskameras kombiniere­n und bald schon jedes ungesetzli­che Verhalten in Echtzeit ahnden. Sperrlinie überfahren, als Fußgänger bei Rot über die Kreuzung, eine Minute nach 22 Uhr Lärm erregt oder an der falschen Stelle eine Zigarette im Mund – all das könnte sofort und unbarmherz­ig erkannt und bestraft werden. Flächendec­kend, zu jeder Tages- und

Nachtzeit, auch wenn man ganz allein unterwegs ist. Das ist unmenschli­ch, weil es keine Grauzonen, kein Unbeobacht­et-Sein zulässt und keine Toleranz möglich macht. Es wäre eine Welt, die keinen einzigen Schritt zur Seite zulässt, die uns in einem engen Korsett von Handlungsn­ormen und deren totaler Überwachun­g zurückläss­t. Derartigen Restriktio­nen wären wir nicht gewachsen. Denn ein dauerndes Sich-beobachtet-Fühlen kann durchaus auch als Folter gesehen werden. Sicher ist aber, dass es die eigene Intoleranz gegenüber unseren Mitmensche­n verstärken würde.

Wie brisant das Thema ist, zeigt der Auftritt von Google-Chef Sundar Pichai in der europäisch­en Denkfabrik Bruegel am Dienstag. Selbst der Vertreter eines Konzerns, der nie zimperlich mit dem Einsatz von Innovation­en ist, fordert, für derartige Technologi­en eine internatio­nale Regulierun­g zu schaffen.

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Thomas Hofbauer

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