Die Unmenschlichkeit einer übertriebenen Digitalisierung
Eine neue Technik lässt aufhorchen. Gesichter können anhand von Social-Media-Daten identifiziert werden. Experten sehen eine Grenze überschritten.
Jeden beliebigen Menschen binnen Millisekunden aus einem Kamerabild identifizieren: Clearview AI heißt das US-Unternehmen, dessen Technologie seit Tagen Aufsehen erregt. Es soll drei Milliarden Bilder von Menschen aus dem Internet zusammengestellt haben, um eine umfassende Datenbank zur Gesichtserkennung zu entwickeln. Aus öffentlich zugänglichen Bildern von Facebook, YouTube und ähnlichen Diensten. 600 Behörden habe man den Service bereits angeboten.
Wie mächtig die Software ist, zeigt das Beispiel der Indiana State Police, die im Februar vergangenen Jahres begann, mit Clearview zu experimentieren. Sie lösten einen Fall innerhalb von 20 Minuten nach Verwendung der Software. Einem Mann wurde bei einem Streit in einem Park in den Bauch geschossen. Ein Passant zeichnete das Verbrechen mit dem Handy auf, sodass die Polizei ein Standbild des Bewaffneten hatte. Clearview lieferte sofort einen Treffer, das System der Polizei hatte versagt, weil der Bewaffnete keinen Führerschein hatte, nie als Erwachsener verhaftet wurde und darum sein Bild in keiner Regierungsdatenbank war. Clearview hingegen identifizierte ihn anhand eines Videos, das jemand in den sozialen Medien gepostet hatte.
Einem Bericht der „New York Times“zufolge hat das Unternehmen auch den Prototyp einer Computerbrille mit Gesichtserkennungsfunktion entwickelt – es gebe aber keine Pläne, diese zu vermarkten.
Experten sind alarmiert und sehen eine Grenze überschritten. Denkt man diese Technologie weiter, könnte man die Software mit Überwachungskameras kombinieren und bald schon jedes ungesetzliche Verhalten in Echtzeit ahnden. Sperrlinie überfahren, als Fußgänger bei Rot über die Kreuzung, eine Minute nach 22 Uhr Lärm erregt oder an der falschen Stelle eine Zigarette im Mund – all das könnte sofort und unbarmherzig erkannt und bestraft werden. Flächendeckend, zu jeder Tages- und
Nachtzeit, auch wenn man ganz allein unterwegs ist. Das ist unmenschlich, weil es keine Grauzonen, kein Unbeobachtet-Sein zulässt und keine Toleranz möglich macht. Es wäre eine Welt, die keinen einzigen Schritt zur Seite zulässt, die uns in einem engen Korsett von Handlungsnormen und deren totaler Überwachung zurücklässt. Derartigen Restriktionen wären wir nicht gewachsen. Denn ein dauerndes Sich-beobachtet-Fühlen kann durchaus auch als Folter gesehen werden. Sicher ist aber, dass es die eigene Intoleranz gegenüber unseren Mitmenschen verstärken würde.
Wie brisant das Thema ist, zeigt der Auftritt von Google-Chef Sundar Pichai in der europäischen Denkfabrik Bruegel am Dienstag. Selbst der Vertreter eines Konzerns, der nie zimperlich mit dem Einsatz von Innovationen ist, fordert, für derartige Technologien eine internationale Regulierung zu schaffen.