GOODBYE, BRITAIN!
Das Vereinigte Königreich hat die EU verlassen. Weit weg ist es nicht.
Die Bilanz ist beachtlich. Dreieinhalb Jahre. Drei Premierminister. Ein Referendum. Zwei Wahlen. Zwei Austrittsverträge. Dutzende Rücktritte. Ein suspendiertes Parlament. Und: unzählige Lügen, ein zutiefst zerstrittenes Land sowie eine in weiten Teilen zerstörte politische Kultur.
Und wofür? Wenn das nur jemand wüsste. „Brexit heißt Brexit“, erläuterte Theresa May, die wie ihr Vorgänger David Cameron am Thema gescheitert ist. „Bringen wir den Brexit über die Bühne!“, wiederholt Boris Johnson, seit Sommer 2019 am Ruder, unermüdlich. Freitag kurz vor Mitternacht schwärmte er wolkig von „nationaler Erneuerung“. Da erscheint das Orakel von Delphi als ein Hort der Klarheit.
Zwar hat Großbritannien die Europäische Union verlassen – aus politischer Sicht. Das war noch die leichteste Übung. Manche sagen ja, die Briten waren sowieso nie ganz drinnen. Vom Euro bis zu Sozialem, immer wieder tanzten sie aus der Reihe. Immer blieben sie im Bann der eigenen vergangenen Größe. Immer war die Sehnsucht da. Der Schmerz über den – angeblichen – Niedergang hat nie geendet. Großbritannien, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Weltmacht, Wirtschaftsgigant und Herrscher über die sieben Meere, wurde nach zwei Weltkriegen und dem Verlust seiner Kolonien eine Nation unter vielen. Das Königreich habe „ein Imperium verloren, aber noch keine Rolle gefunden“, sagte in den 1960er-Jahren Dean Acheson, ein ehemaliger US-Minister. Mit dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1973 schien es, als hätte es eine Neuorientierung geschafft. Doch nun, 47 Jahre später, regieren wieder die alten Geister. Theresa May beschwor sie, wenn sie vom weltumarmenden „Global Britain“schwärmte, oder nun eben Johnson mit seiner „nationalen Erneuerung“. Nationalstolz reloaded. Ein echter Renner ist das nicht. 52 Prozent stimmten beim Referendum 2016 für den Austritt. Aber etwa ebenso viele stimmten bei den Parlamentswahlen 2019 für EU-freundliche Parteien. Nur die Eigenheiten des britischen Wahlrechts bescherten Johnsons neuen Nationalisten die absolute Mehrheit im Parlament.
Eine absolute Mehrheit der Jungen aber will in der EU bleiben. Die Mehrheit der Älteren will gehen. England will auch gehen. Schottland, Wales und Nordirland wollen bleiben. Die Schotten denken wieder an Unabhängigkeit. In Nordirland gewinnt die Idee einer Vereinigung mit der Republik Irland, einem EU-Mitglied, an Boden. Boris Johnson wird alle Hände voll zu tun haben, sein Mini-Empire aus eineinhalb Inseln zusammenzuhalten.
Und er wird auch sonst liefern müssen. Wo sind die 400 Millionen Euro, die nach dem Brexit angeblich wöchentlich für das marode Gesundheitssystem frei werden, wie Johnson während der BrexitKampagne versprochen hat? Wann sind die unglaublich vorteilhaften Handelsverträge mit den USA, mit China und Indien unterschrieben? Und vor allem: mit der EU, dem weitaus wichtigsten Wirtschaftspartner? London will frei sein von allen Regeln, aber trotzdem ungehinderten Marktzugang in Europa. Das lehnt Brüssel strikt ab. Bis Jahresende, so das nächste Versprechen Johnsons, will er sich durchgesetzt haben. Und sonst? In Brüssel wird ein großer Platz leer, oder besser: frei. Großbritannien war ein Schwergewicht. Mit Frankreich und Deutschland stellte es das EU-Führungstrio. Seine Stimme wurde gehört, trotz aller Widerborstigkeit. Erste Folgen des Rückzugs sind zu sehen. So stockt die EU-Erweiterung nach Osten, von London stets massiv vertreten. Dafür kommt die militärische Kooperation in der EU langsam in Fahrt – bisher von den US-treuen Briten stets verhindert. Unter der Führung der Niederlande bildet sich ein wirtschaftsliberaler Block mit nordischen und baltischen Ländern, der Londons pragmatische Linie in Brüssel weiterverfolgt. In vielen anderen Bereichen, bei Klimawandel, Sicherheit, der Iranund Russland-Politik, dürfte sich nicht viel ändern. Zu ähnlich sind die Interessen.
Und wer weiß? Wenn sich die Nebel über der Insel gelichtet haben, sehen Briten das Licht, das die Europäer haben brennen lassen. Damit sie den Weg zurück finden.