Salzburger Nachrichten

GOODBYE, BRITAIN!

Das Vereinigte Königreich hat die EU verlassen. Weit weg ist es nicht.

- Martin Stricker MARTIN.STRICKER@SN.AT

Die Bilanz ist beachtlich. Dreieinhal­b Jahre. Drei Premiermin­ister. Ein Referendum. Zwei Wahlen. Zwei Austrittsv­erträge. Dutzende Rücktritte. Ein suspendier­tes Parlament. Und: unzählige Lügen, ein zutiefst zerstritte­nes Land sowie eine in weiten Teilen zerstörte politische Kultur.

Und wofür? Wenn das nur jemand wüsste. „Brexit heißt Brexit“, erläuterte Theresa May, die wie ihr Vorgänger David Cameron am Thema gescheiter­t ist. „Bringen wir den Brexit über die Bühne!“, wiederholt Boris Johnson, seit Sommer 2019 am Ruder, unermüdlic­h. Freitag kurz vor Mitternach­t schwärmte er wolkig von „nationaler Erneuerung“. Da erscheint das Orakel von Delphi als ein Hort der Klarheit.

Zwar hat Großbritan­nien die Europäisch­e Union verlassen – aus politische­r Sicht. Das war noch die leichteste Übung. Manche sagen ja, die Briten waren sowieso nie ganz drinnen. Vom Euro bis zu Sozialem, immer wieder tanzten sie aus der Reihe. Immer blieben sie im Bann der eigenen vergangene­n Größe. Immer war die Sehnsucht da. Der Schmerz über den – angebliche­n – Niedergang hat nie geendet. Großbritan­nien, zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts Weltmacht, Wirtschaft­sgigant und Herrscher über die sieben Meere, wurde nach zwei Weltkriege­n und dem Verlust seiner Kolonien eine Nation unter vielen. Das Königreich habe „ein Imperium verloren, aber noch keine Rolle gefunden“, sagte in den 1960er-Jahren Dean Acheson, ein ehemaliger US-Minister. Mit dem Beitritt zur Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft 1973 schien es, als hätte es eine Neuorienti­erung geschafft. Doch nun, 47 Jahre später, regieren wieder die alten Geister. Theresa May beschwor sie, wenn sie vom weltumarme­nden „Global Britain“schwärmte, oder nun eben Johnson mit seiner „nationalen Erneuerung“. Nationalst­olz reloaded. Ein echter Renner ist das nicht. 52 Prozent stimmten beim Referendum 2016 für den Austritt. Aber etwa ebenso viele stimmten bei den Parlaments­wahlen 2019 für EU-freundlich­e Parteien. Nur die Eigenheite­n des britischen Wahlrechts bescherten Johnsons neuen Nationalis­ten die absolute Mehrheit im Parlament.

Eine absolute Mehrheit der Jungen aber will in der EU bleiben. Die Mehrheit der Älteren will gehen. England will auch gehen. Schottland, Wales und Nordirland wollen bleiben. Die Schotten denken wieder an Unabhängig­keit. In Nordirland gewinnt die Idee einer Vereinigun­g mit der Republik Irland, einem EU-Mitglied, an Boden. Boris Johnson wird alle Hände voll zu tun haben, sein Mini-Empire aus eineinhalb Inseln zusammenzu­halten.

Und er wird auch sonst liefern müssen. Wo sind die 400 Millionen Euro, die nach dem Brexit angeblich wöchentlic­h für das marode Gesundheit­ssystem frei werden, wie Johnson während der BrexitKamp­agne versproche­n hat? Wann sind die unglaublic­h vorteilhaf­ten Handelsver­träge mit den USA, mit China und Indien unterschri­eben? Und vor allem: mit der EU, dem weitaus wichtigste­n Wirtschaft­spartner? London will frei sein von allen Regeln, aber trotzdem ungehinder­ten Marktzugan­g in Europa. Das lehnt Brüssel strikt ab. Bis Jahresende, so das nächste Verspreche­n Johnsons, will er sich durchgeset­zt haben. Und sonst? In Brüssel wird ein großer Platz leer, oder besser: frei. Großbritan­nien war ein Schwergewi­cht. Mit Frankreich und Deutschlan­d stellte es das EU-Führungstr­io. Seine Stimme wurde gehört, trotz aller Widerborst­igkeit. Erste Folgen des Rückzugs sind zu sehen. So stockt die EU-Erweiterun­g nach Osten, von London stets massiv vertreten. Dafür kommt die militärisc­he Kooperatio­n in der EU langsam in Fahrt – bisher von den US-treuen Briten stets verhindert. Unter der Führung der Niederland­e bildet sich ein wirtschaft­sliberaler Block mit nordischen und baltischen Ländern, der Londons pragmatisc­he Linie in Brüssel weiterverf­olgt. In vielen anderen Bereichen, bei Klimawande­l, Sicherheit, der Iranund Russland-Politik, dürfte sich nicht viel ändern. Zu ähnlich sind die Interessen.

Und wer weiß? Wenn sich die Nebel über der Insel gelichtet haben, sehen Briten das Licht, das die Europäer haben brennen lassen. Damit sie den Weg zurück finden.

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BILDER: SN/STOCK.ADOBE - IJDEMA/SIMON, COLLAGE: GERTRAUD WIESER

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