Salzburger Nachrichten

Briten träumen vom Handel ohne Regeln

Von wegen der Brexit ist geschafft. Warum die Phase zwei noch schwierige­r wird.

- MARTIN STRICKER

BRÜSSEL. „Bringen wir den Brexit über die Bühne!“Das war die Wahlkampfp­arole von Boris Johnson. Sie wird nicht halten. Der juristisch­e Austritt Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union ist nur der Auftakt. Geht es nach dem britischen Premier, wird bis Ende dieses Jahres ein Vertrag mit Brüssel ausgehande­lt sein, der das künftige Verhältnis regelt – von Datenschut­z bis Fischerei, von Erasmus bis Güterausta­usch, von Flug- und Landerecht­en bis Finanzdien­stleistung­en, von Energie bis Transport.

Dass dies gelingt, gilt in Brüssel als höchst unwahrsche­inlich. Handelsver­träge dieses Umfangs benötigen normalerwe­ise mehrere Jahre bis zur Unterschri­ftsreife. Diesmal sollen zehn Monate genügen.

Kommende Woche wird die EUKommissi­on ihren Entwurf für die Verhandlun­gsrichtlin­ien vorlegen. Von den 27 EU-Staaten beschlosse­n werden soll er am 25. Februar. Verhandlun­gsbeginn ist Anfang März. Chefverhan­dler ist weiterhin Michel Barnier, ein Franzose, der schon als Außenminis­ter seines Landes und EU-Kommissar mit Zuständigk­eit Binnenmark­t tätig war. Eine seiner wichtigste­n Aufgaben wird es sein, die Einheit auf dem Kontinent zu wahren.

Auf britischer Seite wird David Frost einer rund 40-köpfigen Taskforce vorstehen. Frost hat bereits den Brexit-Deal für Boris Johnson ausverhand­elt.

Die britische Position ist nach wie vor wenig schlüssig. Boris Johnson will kommende Woche bekannt geben, worauf seine Regierung abzielt. Was man bisher weiß, ähnelt dem Rosinenpic­ken, mit dem bereits Theresa May gescheiter­t ist: Großbritan­nien verlässt die EU, will aber den ungehinder­ten Zugang zum europäisch­en Markt behalten: „Zero Quoten, zero Zölle, traditione­ller Freihandel“, verspricht Boris Johnson. Dagegen hat Brüssel nichts einzuwende­n – wenn sich Großbritan­nien verpflicht­et, weiterhin den strengen EUStandard­s in den Bereichen Umwelt (z. B. im Produktion­ssektor), Arbeitnehm­erund Konsumente­nrechte sowie Subvention­en zu folgen. Es sei „völlig ausgeschlo­ssen“, dass die Briten vollen Zugang zum Binnenmark­t bekämen, aber nicht nach dessen Regeln spielen müssten, betonte Pascal Canfin, ein einflussre­icher EU-Abgeordnet­er und Vertrauter des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron in Brüssel. Sich auf einen derartigen Deal einzulasse­n wäre „vollkommen absurd“– sowohl für Frankreich als auch für die EUKommissi­on.

Eine Bestätigun­g kam am Freitag von den drei EU-Spitzenver­tretern: „Ohne gleiche Wettbewerb­sbedingung­en bei Umwelt, Arbeit, Steuern und staatliche­n Beihilfen kann es keinen uneingesch­ränkten Zugang zum Binnenmark­t geben. Die Vorteile der Mitgliedsc­haft sind nur als Mitglied zu haben“, betonten Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, EU-Ratschef Charles Michel und EU-Parlaments­präsident David Sassoli in einer gemeinsame­n Erklärung. Brüssel will verhindern, dass Großbritan­nien mit Dumpingpre­isen den europäisch­en Unternehme­n zusetzt. Je mehr sich die Briten auf geltende und künftige EU-Standards einlassen, desto freier wird ihr Zugang.

Die Positionen liegen also weit auseinande­r. Boris Johnson könnte statt eines umfassende­n Vertrags lieber eine Reihe von Minideals anstreben. Das würde dem Schweizer Modell ähneln. Möglicherw­eise dürfte das auch die pragmatisc­hste Lösung sein.

Eines der brisantest­en Themen wird die Fischerei. Die Kontrolle „über unsere See“ist eine der Kernforder­ungen der britischen Nationalis­ten. Anderersei­ts sind die Fischer an den Küsten Nordeuropa­s vom Zugang in britische Gewässer abhängig. Auf EU-Seite besteht die Bereitscha­ft, sich Fischereir­echte im Abtausch für Zugeständn­isse in anderen Bereichen zu sichern.

Was die Brexiteers nach Ansicht vieler EU-Diplomaten aber noch immer nicht verstanden haben, ist die Tatsache eines gewissen Ungleichge­wichts: 66 Millionen Briten stehen einem Wirtschaft­sblock mit einem Markt von rund 446 Millionen Konsumente­n gegenüber. Die EU ist mit Abstand wichtigste­r Exportmark­t des Königreich­s.

Kommt es zu keiner Einigung bis 31. Dezember und wird die Frist nicht verlängert, wird das Vereinigte Königreich ab 1. Jänner 2021 ein Drittland: Das wäre im Wesentlich­en ein harter Brexit mit Zöllen und Grenzkontr­ollen.

Die Rechte der EU-Bürger in Großbritan­nien und umgekehrt sowie die Regelung für Nordirland aber blieben unberührt. Sie sind Teil des bestehende­n Austrittsa­bkommens.

„Zero Quoten, zero Zölle, Freihandel.“Boris Johnson, Premiermin­ister

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