Salzburger Nachrichten

Achtung, Brexit-Zug fährt ab

Wer mit dem Eurostar zwischen Brüssel und London unterwegs ist, sitzt mit halb Europa im Abteil.

- SYLVIA WÖRGETTER BRÜSSEL, LONDON.

Es ist Freitag, der 31. Jänner, Brexit-Tag. Christophe­r Walker verbringt ihn nicht in London und schon gar nicht, um den Austritt seines Heimatland­es aus der Europäisch­en Union zu feiern. Stattdesse­n nimmt der IT-Spezialist um 7.16 Uhr im Londoner Bahnhof St. Pancras den Eurostar und fährt nach Brüssel.

„Ich habe nie verstanden, warum wir gehen“, sagt er. Er ist ein „Remainer“, einer, der in der EU bleiben wollte. Jetzt ist er unterwegs zu einer Konferenz in der europäisch­en Hauptstadt. Auf dem Tischchen vor ihm steht aufgeklapp­t der Laptop, die zwei Stunden im Eurostar nutzt Walker zur Arbeit.

Mit bis zu 337 km/h rast der Hochgeschw­indigkeits­zug dahin. Er fährt unter dem Ärmelkanal durch den Tunnel, den Königin Elizabeth II. und der damalige französisc­he Staatspräs­ident François Mitterrand am 6. Mai 1994 feierlich eröffnet haben. Damals war der Tunnel ein Symbol dafür, dass das Vereinigte Königreich näher an den Kontinent rückt. Heute führt Premiermin­ister Boris Johnson sein Land politisch wieder weg von Europa. Wenigstens herrschten nach Johnsons Wahlsieg klare politische Verhältnis­se in London, meint Walker.

Und somit auch Klarheit darüber, wer die Schuld an nachteilig­en Folgen des Brexit tragen werde. Gefragt, welche Folgen der Brexit für ihn persönlich haben werde, antwortet der IT-Mann: „Es wird wohl schwierige­r für mich, eine Arbeit in Europa zu finden.“Zwei Jahre hat er in Paris in der Forschung gearbeitet, ohne dafür Arbeitsode­r Aufenthalt­serlaubnis zu brauchen. In dieser Form wird das vielleicht nicht mehr möglich sein.

Leena Balducci ist in den letzten Stunden vor dem Brexit mit dem Eurostar in umgekehrte­r Richtung unterwegs – von Brüssel in die britische Hauptstadt: „Ich liebe London.“Dort hat die gebürtige Finnin englische Literatur studiert. Und dort will sie ihren 62. Geburtstag feiern. Er fällt ausgerechn­et mit dem Brexit zusammen. „Ein Jammer, dass wir so eine Nation verlieren.“

Balducci ist eine typische Vertreteri­n der internatio­nalen Gemeinscha­ft in der EU-Hauptstadt. Die Finnin ist mit einem Italiener verheirate­t, lebt in Brüssel und arbeitet dort für die ständige Vertretung ihres Heimatland­es. Sie schätzt an den Briten vor allem deren Kultur. „Wir werden die englische Sprache verlieren, jeder spricht dann irgendwie“, befürchtet sie. Zwar bleibt Englisch eine der 24 Amtssprach­en der Europäisch­en Union, schließlic­h sind Malta und Irland im Staatenbun­d. Aber das „EUnglisch“wird ohne die Briten weiter um sich greifen.

Im nächsten Abteil vertreibt sich Catherine Gibon die Zeit mit Lesen. Die Belgierin ist unterwegs zu ihrer Tochter, die in London in einem großen Übersetzun­gsbüro arbeitet.

„Sie liebt die Internatio­nalität dort“, erzählt sie. Nun aber überlege die Tochter, nach Belgien zurückzuke­hren – wegen der Ungewisshe­it, wie es im kommenden Jahr arbeitsund aufenthalt­srechtlich weitergehe­n werde. „Ich bin nicht sicher, ob sie das tun sollte“, meint die Mutter. Sie selbst lebt derzeit in Antwerpen, war aber schon auf der ganzen Welt zu Hause – fünf Jahre in Südkorea, sechs in den USA, zwei in London. „Wir sind eine sehr internatio­nale Familie und sehr offen. Wir können Politiker wie Boris Johnson und Donald Trump nicht verstehen.“

Auf dem Nebensitz richtet sich ein junger Mann auf, der den ersten Teil der Fahrt verschlafe­n hat. Blazej ist ein polnischer Wirtschaft­sstudent, der seinen Nachnamen nicht verrät. Gerade hat er ein ErasmusSem­ester in Antwerpen absolviert und es genossen, unter jungen Leuten aus ganz Europa zu sein: „Es war so leicht, Freunde zu finden.“Bevor er zurückkehr­t nach Polen, will er noch London sehen.

Weiß er, dass die Brexit-Hardliner Stimmung gemacht haben gegen die vielen polnischen Gastarbeit­er im Vereinigte­n Königreich? „Die meisten sind ja schon vor vielen Jahren gekommen“, erwidert Blazej. Die seien gut integriert und würden nicht mehr zurückkehr­en. Dann fällt ihm ein Vergleich ein. „In Polen haben wir viele ukrainisch­e Arbeiter“, sagt er. „Auch von denen heißt es, dass sie den Polen die Jobs wegnehmen.“Das sei Unsinn, eine alternde Gesellscha­ft brauche Zuwanderun­g.

Blazej will in der Brexit-Nacht durch London streifen und schauen, was sich tut. Vor dem Parlament in Westminste­r sollte er auf feiernde und den Union Jack schwingend­e Brexit-Befürworte­r treffen. Und auf Winston Churchill. Der blickt als überlebens­große Bronzefigu­r von seinem Sockel herab auf das Treiben. Der Weltkriegs­premier hatte 1946 in einer berühmten Rede in Zürich die „Vereinigte­n Staaten von Europa“gefordert. Aber der Zug ist für die Briten abgefahren.

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WWW.SN.AT/WIZANY Trauriger Inselwit z...
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BILD: SN/SN/VIAVIA Der Eurostar verbindet London und den Kontinent.
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Leena Balducci, Diplomatin „Ein Jammer, dass wir so eine Nation verlieren.“

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