Österreichs Wirtschaftsdelegierter in London „Großbritannien ist noch immer ein lukrativer Markt“
SN: Der Brexit ist Wirklichkeit. Wie ist die Lage bei den österreichischen Unternehmen? Haben letztlich welche die Insel verlassen? Christian Kesberg: Überhaupt nicht. Ich habe das Gefühl, das Wartezimmer Brexit ist für die Unternehmen zum Wohnzimmer geworden. Das ist nachteilig, aber nicht bedrohlich. Großbritannien ist noch immer ein lukrativer Markt. Unter 250 Firmen können immer welche zusperren, aber keine von den großen und nicht aufgrund des Brexit. Die Firmen haben sich drei Mal auf das Worst-Case-Szenario vorbereitet: auf 31. März, 31. Oktober, 31. Jänner , und es war nichts. Jetzt bereiten sie sich für 31. Dezember vor. Jetzt könnte es leichter sein, weil wir im Verlauf der Verhandlungen mit der EU eine Ahnung bekommen werden, in welche Richtung es geht.
SN: Wird die Übergangsfrist verlängert werden? Ich glaube nicht. Premier Boris Johnson hat sich in dieser Frage so eingegraben und es korreliert auch mit seiner Absicht, Großbritannien aus dem Regelraum der Union zu emanzipieren. Man wird sich eher bemühen, bis Jahresende ein dürres und schmächtiges Freihandelsabkommen abzuschließen, und versuchen, sich in anderen Bereichen wie Energie, Verkehr, Sicherheit und Datenschutz mit Übergangsregeln zu behelfen. Ich bin überzeugt, dass Großbritannien am 31. Dezember 2020 auch de facto und nicht nur de jure aus der EU ausscheidet.
SN: Kommt der große Bruch zwischen der EU und den Briten? Was den Bruch erleichtern würde, wäre ein Freihandelsabkommen, das Zölle und Quoten auf null stellt. Alle anderen Probleme – Zollverfahren, längere Lieferzeiten, unter Umständen Zugangshürden bei Entsendungen von Mitarbeitern – kommen, weil sie mit einem reinen Freihandelsabkommen nicht gelöst werden. Man wird sehen, welche Regeln die Briten unilateral aufstellen. Kann auch sein, dass sie Entsendungen locker handhaben. Der
Austritt bleibt eine schlechte Nachricht für alle Unternehmen, die in Großbritannien tätig sind, und es wird schwieriger und teurer. Aber man muss die berühmte Kirche im Dorf lassen. Großbritannien ist immer noch ein großer Markt, der weiter wächst, wenn auch langsamer. Das Potenzial ist da.
SN: Erwarten Sie, dass die Johnson-Regierung tatsächlich aus London eine Art Singapur an der Themse macht, wie speziell deren Kritiker sagen? Die Grundstimmung bei den Konservativen – dieses ,Wir sind eigentlich keine Europäer. Wir sind anders und wollen unser eigenes Schicksal bestimmen‘ – bewegt sich schon dorthin. Dieses insulare Selbstverständnis gepaart mit leichter Arroganz ist meiner Meinung nach die Kompensation für die Demütigung, den Zweiten Weltkrieg gewonnen, aber gleichzeitig wirtschaftlich und politisch Einfluss in der Welt verloren zu haben. Wie weit sich das in Wirtschaftspolitik umsetzen lässt, ist schwer zu beurteilen.
SN: Was wäre Ihr Tipp? Der natürliche Wirtschaftspartner Großbritanniens ist der Nachbar, also die EU. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat es klar gesagt: Je mehr die Briten bereit sind, nach den Regeln der Union zu spielen, desto mehr Zugang bekommen sie. Umgekehrt heißt das aber, dass sie weniger Spielraum beim Freihandel haben.
Zu meinen, man könnte mit einem Freihandelsabkommen mit den USA kompensieren, was man im grenznahen Geschäft mit der EU verliert, wäre nicht sehr gescheit. Vor allem müssen sich die Briten die Frage gefallen lassen, warum die Deutschen in den vergangenen 15 Jahren ihre Exporte in die USA verdoppelt haben, während ihnen das nicht gelungen ist. Es scheint also andere Gründe zu geben, warum das Geschäft nicht so läuft. Ich würde „Singapur an der Themse“als radikale Aussage im Wahlkampf und Wahlversprechen einordnen. Ich mache mir noch keine großen Sorgen, obwohl ich es auch nicht ausschließen würde.
SN: Wie sehr wird der Brexit die Wirtschaft beeinträchtigen? Der Brexit wird zwischen 2,3 und sieben Prozent Wirtschaftswachstum über zehn Jahre kosten. Das ist ein breites Band und hängt davon ab, ob die Immigrationspolitik restriktiv oder liberal gestaltet wird. Es gibt in Großbritannien den gleichen Fachkräftemangel wie bei uns, das ist das große Thema. Sollte es künftig ein einfaches Punktesystem wie in Australien geben, das auf bestimmte berufliche Qualifikationen abstellt, werden sich die Schäden mit zwei Prozent dividiert durch zehn Jahre in engen Grenzen halten.