Salzburger Nachrichten

Österreich­s Wirtschaft­sdelegiert­er in London „Großbritan­nien ist noch immer ein lukrativer Markt“

- Christian Kesberg BILD: SN/WKO Christian Kesberg: Der gebürtige Kärntner ist seit 2016 Wirtschaft­sdelegiert­er in London. Davor war er in New York sowie in Kuwait, Los Angeles und Seoul im Einsatz.

SN: Der Brexit ist Wirklichke­it. Wie ist die Lage bei den österreich­ischen Unternehme­n? Haben letztlich welche die Insel verlassen? Christian Kesberg: Überhaupt nicht. Ich habe das Gefühl, das Wartezimme­r Brexit ist für die Unternehme­n zum Wohnzimmer geworden. Das ist nachteilig, aber nicht bedrohlich. Großbritan­nien ist noch immer ein lukrativer Markt. Unter 250 Firmen können immer welche zusperren, aber keine von den großen und nicht aufgrund des Brexit. Die Firmen haben sich drei Mal auf das Worst-Case-Szenario vorbereite­t: auf 31. März, 31. Oktober, 31. Jänner , und es war nichts. Jetzt bereiten sie sich für 31. Dezember vor. Jetzt könnte es leichter sein, weil wir im Verlauf der Verhandlun­gen mit der EU eine Ahnung bekommen werden, in welche Richtung es geht.

SN: Wird die Übergangsf­rist verlängert werden? Ich glaube nicht. Premier Boris Johnson hat sich in dieser Frage so eingegrabe­n und es korreliert auch mit seiner Absicht, Großbritan­nien aus dem Regelraum der Union zu emanzipier­en. Man wird sich eher bemühen, bis Jahresende ein dürres und schmächtig­es Freihandel­sabkommen abzuschlie­ßen, und versuchen, sich in anderen Bereichen wie Energie, Verkehr, Sicherheit und Datenschut­z mit Übergangsr­egeln zu behelfen. Ich bin überzeugt, dass Großbritan­nien am 31. Dezember 2020 auch de facto und nicht nur de jure aus der EU ausscheide­t.

SN: Kommt der große Bruch zwischen der EU und den Briten? Was den Bruch erleichter­n würde, wäre ein Freihandel­sabkommen, das Zölle und Quoten auf null stellt. Alle anderen Probleme – Zollverfah­ren, längere Lieferzeit­en, unter Umständen Zugangshür­den bei Entsendung­en von Mitarbeite­rn – kommen, weil sie mit einem reinen Freihandel­sabkommen nicht gelöst werden. Man wird sehen, welche Regeln die Briten unilateral aufstellen. Kann auch sein, dass sie Entsendung­en locker handhaben. Der

Austritt bleibt eine schlechte Nachricht für alle Unternehme­n, die in Großbritan­nien tätig sind, und es wird schwierige­r und teurer. Aber man muss die berühmte Kirche im Dorf lassen. Großbritan­nien ist immer noch ein großer Markt, der weiter wächst, wenn auch langsamer. Das Potenzial ist da.

SN: Erwarten Sie, dass die Johnson-Regierung tatsächlic­h aus London eine Art Singapur an der Themse macht, wie speziell deren Kritiker sagen? Die Grundstimm­ung bei den Konservati­ven – dieses ,Wir sind eigentlich keine Europäer. Wir sind anders und wollen unser eigenes Schicksal bestimmen‘ – bewegt sich schon dorthin. Dieses insulare Selbstvers­tändnis gepaart mit leichter Arroganz ist meiner Meinung nach die Kompensati­on für die Demütigung, den Zweiten Weltkrieg gewonnen, aber gleichzeit­ig wirtschaft­lich und politisch Einfluss in der Welt verloren zu haben. Wie weit sich das in Wirtschaft­spolitik umsetzen lässt, ist schwer zu beurteilen.

SN: Was wäre Ihr Tipp? Der natürliche Wirtschaft­spartner Großbritan­niens ist der Nachbar, also die EU. EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen hat es klar gesagt: Je mehr die Briten bereit sind, nach den Regeln der Union zu spielen, desto mehr Zugang bekommen sie. Umgekehrt heißt das aber, dass sie weniger Spielraum beim Freihandel haben.

Zu meinen, man könnte mit einem Freihandel­sabkommen mit den USA kompensier­en, was man im grenznahen Geschäft mit der EU verliert, wäre nicht sehr gescheit. Vor allem müssen sich die Briten die Frage gefallen lassen, warum die Deutschen in den vergangene­n 15 Jahren ihre Exporte in die USA verdoppelt haben, während ihnen das nicht gelungen ist. Es scheint also andere Gründe zu geben, warum das Geschäft nicht so läuft. Ich würde „Singapur an der Themse“als radikale Aussage im Wahlkampf und Wahlverspr­echen einordnen. Ich mache mir noch keine großen Sorgen, obwohl ich es auch nicht ausschließ­en würde.

SN: Wie sehr wird der Brexit die Wirtschaft beeinträch­tigen? Der Brexit wird zwischen 2,3 und sieben Prozent Wirtschaft­swachstum über zehn Jahre kosten. Das ist ein breites Band und hängt davon ab, ob die Immigratio­nspolitik restriktiv oder liberal gestaltet wird. Es gibt in Großbritan­nien den gleichen Fachkräfte­mangel wie bei uns, das ist das große Thema. Sollte es künftig ein einfaches Punktesyst­em wie in Australien geben, das auf bestimmte berufliche Qualifikat­ionen abstellt, werden sich die Schäden mit zwei Prozent dividiert durch zehn Jahre in engen Grenzen halten.

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