Im Jenseits der 60
Älter werden ist voll von Verheißungen mit Sechsdreiviertel, aber wenn du älter bist, drei Viertel weit im Jenseits der Sechs, ist das nicht mehr so heiß. Das Auffälligste ist die zunehmende Unsichtbarkeit. Du bist zwar dort, aber nicht wirklich mehr da. Für die anderen. Vor allem in Liebessachen. Ich habe mich umgehört. Ja, gell, irgendwie fühlt man sich ja kaum anders als mit 35. Hast du auch den Eindruck, du wirst weniger häufig angebaggert? Die schrägen Vorurteile, die da kursieren – tote Hose –, stimmen übrigens nicht. Eher mehr genießen! Wie beim Essen. Man zieht sich auch nicht mehr jeden Junk rein, nur weil man hungrig ist, oder?
Ist Älterwerden sehr anders für Männer? Tatsache ist, dass jüngere Frauen ältere Männer weniger oft ausschließen als umgekehrt. Es hat wohl auch mit Schönheitsnormen zu tun, die Männern weniger, aber erstaunlich streng Frauen vorgeschrieben werden. Eine Sechs in der Altersangabe – zack – gelöscht. Darunter leiden Heterafrauen übrigens auffallend mehr als gleichgeschlechtlich Liebende. Welche Vorteile habe das Älterwerden, fragte ich Frauen zwischen 48 und 82. Ernste Nachdenkpause. Dann: keine. Darüber brachen wir fast immer in wissend schallendes Gelächter aus, aber bald fielen uns doch Vorteile ein: Deutlich weniger Männer flirten, was vor allem bei beruflichen Anlässen erholsam ist, du bist selbstsicherer, unabhängiger von Außenbewertung, kennst deine Bedürfnisse besser und verfolgst sie auch zweifelsfreier. Du versäumst nix, wenn du nicht überall dabei bist. Du lernst, Zeit und Geld zu beanspruchen, ohne dir selbstsüchtig vorzukommen. Weibliche Sozialisation bläut dir ja kulturübergreifend ein, selbstlos für andere da zu sein. Ältere Frauen engagieren sich zunehmend – auch politisch z. B. bei den linksliberalen „Omas gegen Rechts“.
Allerdings werden Freundschaften oder gar Lieben mit Menschen, die deine Kinder oder gar Enkel sein könnten, seltener. Diese eigenartige Fremdheit empfinden die Jüngeren eher stärker, denn du als erwachsener Mensch bleibst ja „jung“, in deinem sich verändernden Körper.
Ach ja, die Liebe. Die leidige Liebe. Wer ist frei von Vorurteilen? Welches Bild poppt auf bei einer „älteren Frau“, einem „älteren Mann“? Wann beginnt „älter“und wann „alt“? Ist älter älter als alt? Ich seh noch die sich verfinsternde Miene meines 82-jährigen Vaters vor mir, als ich ihn angestrengt fröhlich durch die hellen Flure des Altersheims rollte. Er brummelte düster was von „lauta alte Leit“. Warum scheue auch ich, wenn Ladungen alter Menschen aus Bussen quellen und durch die Altstadt wimmeln? Ist Alter ansteckend? Kaum berührt, bist du todgeweiht? Und: Gespräche über Liebe und Sex balancieren schrumpelnd und humpelnd entlang des guten Geschmacks. Und ach – erotische Situationen ergeben sich vor allem nicht mit jenen Personen, die du anziehend findest. Vom vormaligen Stau des Überangebots bleibt eigentlich nur mehr das Erstaunen übrig. Bist du gar wieder verliebt, denkst du Tag und Nacht an ihn/sie, hältst das Handy innig wie seine/ihre Hand, stellst dir den ersten Kuss in Hunderten Varianten vor, bist jungfräulich nervös–ja– es ist ja schon ein Zeitl her. Und wenn er/sie dir endlich die Hand tätschelt, kannst du es nicht fassen, wie weit dich deine blinde Verliebtheit in den Kosmos gebeamt hat. Manchmal jedoch ...