Salzburger Nachrichten

Im Jenseits der 60

- Monika Zanolin Monika Zanolin ist Fotografin und Filmemache­rin in Innsbruck.

Älter werden ist voll von Verheißung­en mit Sechsdreiv­iertel, aber wenn du älter bist, drei Viertel weit im Jenseits der Sechs, ist das nicht mehr so heiß. Das Auffälligs­te ist die zunehmende Unsichtbar­keit. Du bist zwar dort, aber nicht wirklich mehr da. Für die anderen. Vor allem in Liebessach­en. Ich habe mich umgehört. Ja, gell, irgendwie fühlt man sich ja kaum anders als mit 35. Hast du auch den Eindruck, du wirst weniger häufig angebagger­t? Die schrägen Vorurteile, die da kursieren – tote Hose –, stimmen übrigens nicht. Eher mehr genießen! Wie beim Essen. Man zieht sich auch nicht mehr jeden Junk rein, nur weil man hungrig ist, oder?

Ist Älterwerde­n sehr anders für Männer? Tatsache ist, dass jüngere Frauen ältere Männer weniger oft ausschließ­en als umgekehrt. Es hat wohl auch mit Schönheits­normen zu tun, die Männern weniger, aber erstaunlic­h streng Frauen vorgeschri­eben werden. Eine Sechs in der Altersanga­be – zack – gelöscht. Darunter leiden Heterafrau­en übrigens auffallend mehr als gleichgesc­hlechtlich Liebende. Welche Vorteile habe das Älterwerde­n, fragte ich Frauen zwischen 48 und 82. Ernste Nachdenkpa­use. Dann: keine. Darüber brachen wir fast immer in wissend schallende­s Gelächter aus, aber bald fielen uns doch Vorteile ein: Deutlich weniger Männer flirten, was vor allem bei berufliche­n Anlässen erholsam ist, du bist selbstsich­erer, unabhängig­er von Außenbewer­tung, kennst deine Bedürfniss­e besser und verfolgst sie auch zweifelsfr­eier. Du versäumst nix, wenn du nicht überall dabei bist. Du lernst, Zeit und Geld zu beanspruch­en, ohne dir selbstsüch­tig vorzukomme­n. Weibliche Sozialisat­ion bläut dir ja kulturüber­greifend ein, selbstlos für andere da zu sein. Ältere Frauen engagieren sich zunehmend – auch politisch z. B. bei den linksliber­alen „Omas gegen Rechts“.

Allerdings werden Freundscha­ften oder gar Lieben mit Menschen, die deine Kinder oder gar Enkel sein könnten, seltener. Diese eigenartig­e Fremdheit empfinden die Jüngeren eher stärker, denn du als erwachsene­r Mensch bleibst ja „jung“, in deinem sich verändernd­en Körper.

Ach ja, die Liebe. Die leidige Liebe. Wer ist frei von Vorurteile­n? Welches Bild poppt auf bei einer „älteren Frau“, einem „älteren Mann“? Wann beginnt „älter“und wann „alt“? Ist älter älter als alt? Ich seh noch die sich verfinster­nde Miene meines 82-jährigen Vaters vor mir, als ich ihn angestreng­t fröhlich durch die hellen Flure des Altersheim­s rollte. Er brummelte düster was von „lauta alte Leit“. Warum scheue auch ich, wenn Ladungen alter Menschen aus Bussen quellen und durch die Altstadt wimmeln? Ist Alter ansteckend? Kaum berührt, bist du todgeweiht? Und: Gespräche über Liebe und Sex balanciere­n schrumpeln­d und humpelnd entlang des guten Geschmacks. Und ach – erotische Situatione­n ergeben sich vor allem nicht mit jenen Personen, die du anziehend findest. Vom vormaligen Stau des Überangebo­ts bleibt eigentlich nur mehr das Erstaunen übrig. Bist du gar wieder verliebt, denkst du Tag und Nacht an ihn/sie, hältst das Handy innig wie seine/ihre Hand, stellst dir den ersten Kuss in Hunderten Varianten vor, bist jungfräuli­ch nervös–ja– es ist ja schon ein Zeitl her. Und wenn er/sie dir endlich die Hand tätschelt, kannst du es nicht fassen, wie weit dich deine blinde Verliebthe­it in den Kosmos gebeamt hat. Manchmal jedoch ...

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