Geist & Welt Ist eins und eins immer zwei?
Ist es wahr, dass eins und eins immer zwei ist? Ein SN-Gespräch über Deutungshoheit, Macht und Wahrhaftigkeit. Und warum man ein Dogma nicht analysieren, sondern nur singen kann.
IIn seinem neuen Buch über Zahlen befasst sich der Mathematiker Rudolf Taschner auch mit der Frage nach der Wahrheit.
SN: In der Mathematik scheint die Wahrheit klar – auch wenn Sie in Ihrem Buch über die Zahlen ein Beispiel beschreiben, wonach man aus einer Kugel zwei gleich große machen könne. Ist eins und eins immer zwei?
Rudolf Taschner: Es ist korrekt, dass eins und eins zwei ergibt, weil es einen Konsens gibt. Also Einigkeit herrscht, was gemeint ist. Zählen ist ein Sprachspiel, an dem sich jeder beteiligen kann. Wir fangen mit eins zu zählen an. Zu jeder Zahl gibt es eine nächste, und niemals wird eine davon mit eins übereinstimmen. So entsteht das Sprachspiel der Arithmetik. Die Mitspieler heißen Mathematiker. Wer nicht mitspielt, ist vielleicht Politiker (lacht).
SN: Ist Wahrheit nur das, worauf man sich einigt?
Wahrheit hat viel mit Deutungshoheit und mit Macht zu tun. Pilatus hat im Prozess gegen Jesus Deutungshoheit beansprucht. Er sagte, er fände keine Schuld an diesem Menschen. Und das habe zu gelten. Aber das Volk entgegnete, Jesus habe sich an die Stelle des Kaisers gestellt. Wer feststellt, was der Fall ist, beansprucht Deutungshoheit und damit Wahrheit. Gerechtfertigt ist das nur, wenn dieser Mensch wahrhaftig ist.
Letztendlich ist Wahrheit an Gott gebunden. Er allein ist im Besitz letztgültiger Wahrheit. Wir dürfen, mit ein wenig Glück, daran teilhaben. Die Aufklärung freilich hat gelehrt: Wir müssen so denken, als ob es Gott nicht gäbe. Damit zerbricht der Begriff der Wahrheit. Denn dann kann man letztgültige Wahrheit im Denken nicht finden.
SN: Wenn wir seit der Aufklärung nicht mehr von Wahrheit reden können, was würden Sie an diese Stelle setzen?
Ich unterscheide das Private und das Politische. Das Private ist eine individuelle Angelegenheit, die sich durch kein Gesetz regeln lässt. Da herrscht Chaos. „My home is my castle“, sagt der Engländer. Denn für Thomas Hobbes ist der Staat, der Inbegriff des Politischen, ein Monster. Aber ich kann es zulassen, wenn ich mein eigenes Schloss habe, in dem es mich nicht belästigt.
Im Revolutionsjahr 1968 hörte ich dann die Parole, alles sei politisch, auch alles Private. In Österreich sprach Bruno Kreisky in diesem Sinne von der „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie“. Die Kommune 1 hat folgerichtig als erste Aktion die Klotüren ausgehängt. Das war, wenn es nichts Privates mehr gibt, konsequent gedacht. Aus meiner Sicht eine riesige Gefahr. Der Schutz des Privaten ist für mich ein existenzielles Fundament.
SN: Gehört dazu auch der Schutz des Gewissens? Kardinal Henry Newman sagte, wenn er einen Toast auf die Religion ausbringen müsste, würde er auf den Papst trinken. Aber zuerst auf das Gewissen.
Mein Gewissen ist absolut. Und es bedrängt mich, wenn ich nicht wahrhaftig bin. Das Gewissen steht über allen Grundsätzen, die allgemein formuliert werden.
SN: Woran soll sich Politik orientieren, wenn nicht an einer Idee von Wahrheit?
Im Politischen sollte man kleinere Kuchen backen. Politik soll dafür sorgen, dass der Mensch in Freiheit und Sicherheit sein Glück suchen kann. Viele meinen sogar, der Staat müsse das Glück für sie schaffen. Aber da waren die Gründerväter der USA mit ihrer Formulierung „pursuit of happiness“viel klüger: Sie geben mir die Freiheit, mein Glück zu suchen. Ich würde den Begriff Wahrheit im öffentlichen Bereich durch das Wort Korrektheit ersetzen.
SN: Kann eine Religion auf den Begriff der Wahrheit verzichten?
Das ist schwierig. Natürlich hat eine Religionsgemeinschaft den Anspruch, den Weg zur Seligkeit zu beschreiben. Ich fürchte jedoch, dass diese Beschreibung oft zu breit gefasst wird. Die Botschaft von Jesus wird durch die Verkündigung und die Tradition stark überhöht. Der verkündete Jesus droht den „wahren“zu verdrängen.
SN: Ist es also ein Verhängnis der Religionen, dass sie meinen, im Besitz der Wahrheit zu sein?
Ja, klarerweise. Es bringt nichts, Dogmen analytisch untersuchen zu wollen. Der
Theologe Gisbert Greshake betont, dass Dogmen gesungen werden. Wenn man ein Dogma singt, hat es einen höheren, einen ästhetischen Wert. Am Ende kann der Mensch sagen, das stimmt, weil es schön ist. In einem feierlichen, ritualisierten Prozess bleibt immer ein Rest Geheimnis, das keiner versteht. Es zeigt sich, aber man kann nicht darüber reden, und das ist gut so. Man kann es nur singen. Gar jodeln, denn beim Jodeln weiß man nicht, was es bedeutet. Es ist einfach schön, wenn man den Zugang dafür hat.
SN: Der Katholizismus hat starke Rituale. Seit dem II. Vatikanischen Konzil steht aber das Wort im Vordergrund. Ist das eine Fehlentwicklung?
Das Ritual ist in der Religion sehr wichtig. Man muss nur wissen, dass es nicht von dieser Welt ist. Und es soll ja auch nicht von dieser Welt sein. In den jüdischen Synagogen wird noch immer hebräisch gebetet und gesungen. Viele können es nur holprig übersetzen. Aber es ist eine heilige Sprache. Ich wäre sehr dafür, dass sich die römische Kirche wieder auf Latein besinnt. Evangelium und Predigt deutsch, klar, aber sonst vieles in Latein. Da kann man, wie im Hebräischen, nie ganz hineindringen. Muslime lesen den Koran arabisch. Das ist durchaus sinnvoll, weil es eine abgehobene Sprache ist, die nicht im Alltag verwendet wird. Vor allem nicht im Politischen.
SN: Sie sagen, das sei sinnvoll. Aber entspricht es dem Menschen nach der Aufklärung?
Das ist eine Dialektik. Da haben Sie recht. Sobald wir mit dem analytischen Denken an die heiligen Texte herangehen, kann es sein, dass sie zerfallen. Ähnliches geschieht auch in der Musik. Sie können Musik hören und sagen, sie gefällt mir, sie ergreift mich sogar. Und dann kommt jemand und analysiert und zerlegt alles. Das mag interessant sein. Aber besteht darin das wahre Hören von Musik?
Die Aufklärung hat gelehrt, wir müssen so denken, als ob es Gott nicht gäbe. Rudolf Taschner Mathematiker, Parlamentarier, Autor BILD: SN/APA/HERBERT NEUBAUER