Salzburger Nachrichten

Geist & Welt Ist eins und eins immer zwei?

Ist es wahr, dass eins und eins immer zwei ist? Ein SN-Gespräch über Deutungsho­heit, Macht und Wahrhaftig­keit. Und warum man ein Dogma nicht analysiere­n, sondern nur singen kann.

- JOSEF BRUCKMOSER

IIn seinem neuen Buch über Zahlen befasst sich der Mathematik­er Rudolf Taschner auch mit der Frage nach der Wahrheit.

SN: In der Mathematik scheint die Wahrheit klar – auch wenn Sie in Ihrem Buch über die Zahlen ein Beispiel beschreibe­n, wonach man aus einer Kugel zwei gleich große machen könne. Ist eins und eins immer zwei?

Rudolf Taschner: Es ist korrekt, dass eins und eins zwei ergibt, weil es einen Konsens gibt. Also Einigkeit herrscht, was gemeint ist. Zählen ist ein Sprachspie­l, an dem sich jeder beteiligen kann. Wir fangen mit eins zu zählen an. Zu jeder Zahl gibt es eine nächste, und niemals wird eine davon mit eins übereinsti­mmen. So entsteht das Sprachspie­l der Arithmetik. Die Mitspieler heißen Mathematik­er. Wer nicht mitspielt, ist vielleicht Politiker (lacht).

SN: Ist Wahrheit nur das, worauf man sich einigt?

Wahrheit hat viel mit Deutungsho­heit und mit Macht zu tun. Pilatus hat im Prozess gegen Jesus Deutungsho­heit beanspruch­t. Er sagte, er fände keine Schuld an diesem Menschen. Und das habe zu gelten. Aber das Volk entgegnete, Jesus habe sich an die Stelle des Kaisers gestellt. Wer feststellt, was der Fall ist, beanspruch­t Deutungsho­heit und damit Wahrheit. Gerechtfer­tigt ist das nur, wenn dieser Mensch wahrhaftig ist.

Letztendli­ch ist Wahrheit an Gott gebunden. Er allein ist im Besitz letztgülti­ger Wahrheit. Wir dürfen, mit ein wenig Glück, daran teilhaben. Die Aufklärung freilich hat gelehrt: Wir müssen so denken, als ob es Gott nicht gäbe. Damit zerbricht der Begriff der Wahrheit. Denn dann kann man letztgülti­ge Wahrheit im Denken nicht finden.

SN: Wenn wir seit der Aufklärung nicht mehr von Wahrheit reden können, was würden Sie an diese Stelle setzen?

Ich unterschei­de das Private und das Politische. Das Private ist eine individuel­le Angelegenh­eit, die sich durch kein Gesetz regeln lässt. Da herrscht Chaos. „My home is my castle“, sagt der Engländer. Denn für Thomas Hobbes ist der Staat, der Inbegriff des Politische­n, ein Monster. Aber ich kann es zulassen, wenn ich mein eigenes Schloss habe, in dem es mich nicht belästigt.

Im Revolution­sjahr 1968 hörte ich dann die Parole, alles sei politisch, auch alles Private. In Österreich sprach Bruno Kreisky in diesem Sinne von der „Durchflutu­ng aller Lebensbere­iche mit Demokratie“. Die Kommune 1 hat folgericht­ig als erste Aktion die Klotüren ausgehängt. Das war, wenn es nichts Privates mehr gibt, konsequent gedacht. Aus meiner Sicht eine riesige Gefahr. Der Schutz des Privaten ist für mich ein existenzie­lles Fundament.

SN: Gehört dazu auch der Schutz des Gewissens? Kardinal Henry Newman sagte, wenn er einen Toast auf die Religion ausbringen müsste, würde er auf den Papst trinken. Aber zuerst auf das Gewissen.

Mein Gewissen ist absolut. Und es bedrängt mich, wenn ich nicht wahrhaftig bin. Das Gewissen steht über allen Grundsätze­n, die allgemein formuliert werden.

SN: Woran soll sich Politik orientiere­n, wenn nicht an einer Idee von Wahrheit?

Im Politische­n sollte man kleinere Kuchen backen. Politik soll dafür sorgen, dass der Mensch in Freiheit und Sicherheit sein Glück suchen kann. Viele meinen sogar, der Staat müsse das Glück für sie schaffen. Aber da waren die Gründervät­er der USA mit ihrer Formulieru­ng „pursuit of happiness“viel klüger: Sie geben mir die Freiheit, mein Glück zu suchen. Ich würde den Begriff Wahrheit im öffentlich­en Bereich durch das Wort Korrekthei­t ersetzen.

SN: Kann eine Religion auf den Begriff der Wahrheit verzichten?

Das ist schwierig. Natürlich hat eine Religionsg­emeinschaf­t den Anspruch, den Weg zur Seligkeit zu beschreibe­n. Ich fürchte jedoch, dass diese Beschreibu­ng oft zu breit gefasst wird. Die Botschaft von Jesus wird durch die Verkündigu­ng und die Tradition stark überhöht. Der verkündete Jesus droht den „wahren“zu verdrängen.

SN: Ist es also ein Verhängnis der Religionen, dass sie meinen, im Besitz der Wahrheit zu sein?

Ja, klarerweis­e. Es bringt nichts, Dogmen analytisch untersuche­n zu wollen. Der

Theologe Gisbert Greshake betont, dass Dogmen gesungen werden. Wenn man ein Dogma singt, hat es einen höheren, einen ästhetisch­en Wert. Am Ende kann der Mensch sagen, das stimmt, weil es schön ist. In einem feierliche­n, ritualisie­rten Prozess bleibt immer ein Rest Geheimnis, das keiner versteht. Es zeigt sich, aber man kann nicht darüber reden, und das ist gut so. Man kann es nur singen. Gar jodeln, denn beim Jodeln weiß man nicht, was es bedeutet. Es ist einfach schön, wenn man den Zugang dafür hat.

SN: Der Katholizis­mus hat starke Rituale. Seit dem II. Vatikanisc­hen Konzil steht aber das Wort im Vordergrun­d. Ist das eine Fehlentwic­klung?

Das Ritual ist in der Religion sehr wichtig. Man muss nur wissen, dass es nicht von dieser Welt ist. Und es soll ja auch nicht von dieser Welt sein. In den jüdischen Synagogen wird noch immer hebräisch gebetet und gesungen. Viele können es nur holprig übersetzen. Aber es ist eine heilige Sprache. Ich wäre sehr dafür, dass sich die römische Kirche wieder auf Latein besinnt. Evangelium und Predigt deutsch, klar, aber sonst vieles in Latein. Da kann man, wie im Hebräische­n, nie ganz hineindrin­gen. Muslime lesen den Koran arabisch. Das ist durchaus sinnvoll, weil es eine abgehobene Sprache ist, die nicht im Alltag verwendet wird. Vor allem nicht im Politische­n.

SN: Sie sagen, das sei sinnvoll. Aber entspricht es dem Menschen nach der Aufklärung?

Das ist eine Dialektik. Da haben Sie recht. Sobald wir mit dem analytisch­en Denken an die heiligen Texte herangehen, kann es sein, dass sie zerfallen. Ähnliches geschieht auch in der Musik. Sie können Musik hören und sagen, sie gefällt mir, sie ergreift mich sogar. Und dann kommt jemand und analysiert und zerlegt alles. Das mag interessan­t sein. Aber besteht darin das wahre Hören von Musik?

Die Aufklärung hat gelehrt, wir müssen so denken, als ob es Gott nicht gäbe. Rudolf Taschner Mathematik­er, Parlamenta­rier, Autor BILD: SN/APA/HERBERT NEUBAUER

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 ??  ?? Rudolf Taschner: Die Farben der Quadratzah­len. Kleine Anleitung zum mathematis­chen Staunen. 256 S., 89 Abb., 22,70 Euro, Hanser 2019.
Rudolf Taschner: Die Farben der Quadratzah­len. Kleine Anleitung zum mathematis­chen Staunen. 256 S., 89 Abb., 22,70 Euro, Hanser 2019.
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