Kulinarium Das Land der Eichhörnchen-Esser
Großbritannien: Ein kulinarischer Exot verlässt die EU. Der Brexit ist nur einer von vielen Hinweisen auf die Unerschrockenheit der Briten. Am meisten Willensstärke zeigt das Inselvolk nämlich beim Essen. Derzeit erfreuen sich knusprige Eichhörnchen wach
KKulinarisch hat man den Engländern schon immer misstraut. Vor allem ihr Hang zur Minzsauce stößt vor allem ihren französischen Erbfeinden sauer auf. Glaubt man etwa René Goscinny und Albert Uderzo, dann war Obelix im Album „Asterix bei den Briten“dermaßen über ein mit Minzsauce serviertes Wildschwein entsetzt, dass er voller Mitleid ausrief: „Asterix, das arme Schwein!“Gebratenes mit Minzsauce zu servieren gilt den Franzosen offenbar als wichtigster Beweis für die Absonderlichkeit britischer kulinarischer Gepflogenheiten. Diesen befremdlich anmutenden Geschmacksverirrungen der britischen Küche wurde in den vergangenen Jahren eine weitere gewöhnungsbedürftige Spezialität hinzugefügt. Geschmacklich gilt diese zwar als einwandfrei. Es ist nur die Niedlichkeit der Hauptzutat, die den Engländern wieder einmal den Ruf als verhaltensauffällige Nahrungsbeschaffer einbrachte. Die Rede ist von gebratenen Eichhörnchen. Damit hat sich der Sternekoch Fergus Henderson in seinem Londoner Restaurant St. John einen Namen gemacht. Dieser Koch gilt als Naturgewalt. Allein schon der Biss in eine Niere, sagt Henderson, sei Hochgenuss, weil diese – wenn sie perfekt gebraten sei – so „zärtlich quietscht“. Er hatte früh einen respektablen Bekanntheitsgrad erreicht, weil er als einer von wenigen Sterneköchen Tiere vom Kopf bis zum Huf verwertete. Er nannte das „from nose to tail“. Den Begriff kennt heute jeder. Erfunden hat er diese Methode natürlich nicht. Aber keiner kann so gut darüber schwadronieren wie er. Und keiner ignoriert die Grenzen des kulinarischen Establishments so nonchalant wie er.
Weltberühmt wurde Henderson erst, als er Fleisch von Eichhörnchen auf die Karte seines Restaurants setzte. Das brachte Tierschützer erwartungsgemäß auf die Palme. Henderson nennt sie, nachdem er zahlreiche Drohbriefe erhalten hatte, nur noch Kleintier-Dschihadisten. Eichhörnchen zu verkochen betrachtet er keineswegs als ungewöhnlich: „Sie schmecken wie Wildhasen, nur öliger“, erklärt er. Auch gebratenes Knochenmark zählt zu seinen Spezialitäten. Was seit der als Rinderwahn bekannten Krankheit BSE ebenfalls nicht ganz so leicht an den Mann und erst recht nicht an die Frau zu bringen ist. Zu Beginn seiner Eskapaden wunderten sich selbst seine Landsleute noch über diesen extravaganten Koch. Heute sind Eichhörnchen aber bereits drauf und dran, kulinarischer Mainstream zu werden.
So wie im Restaurant Native, das sich am Londoner Borough Market befindet. Hier gilt langsam geschmortes GrauhörnchenRagout als neue Spezialität. Der Koch Ivan Tisdall-Downes schwört nicht nur wegen des guten Geschmacks auf dieses Gericht. Er betont auch die Nachhaltigkeit dieser
Speise. In Wahrheit, so behauptet er treuherzig, gehe es hauptsächlich darum, die grassierende Grauhörnchenplage einzudämmen. Sämtliche Grauhörnchen sind nämlich zum Abschuss freigegeben. Mehr als fünf Millionen dieser ursprünglich in Nordamerika beheimateten Tiere gibt es schon in England. Zum Vergleich: Der Bestand der heimischen roten Eichhörnchen ist mittlerweile auf 150.000 Tiere geschrumpft. Sie werden nachweislich von den grauen verdrängt.
Mit Kevin Tickle ist ein weiterer Sternekoch auf den Geschmack des Eichhörnchens gekommen. Tickle betreibt in Grasmere im Nordwesten Englands das Restaurant The Forest Side. Dort bietet er seit 2016 eine Spezialität namens Critter Fritter. Das ist eine mit Eichhörnchenfleisch gefüllte Krokette.
Seit es Eichhörnchen-Lasagne gibt, ist der Siegeszug der kleinen Tiere auf der Insel nicht mehr zu stoppen. In London gibt es die ungeschriebene Gastroregel, dass jedes Lokal für Normalverbraucher zumindest drei klassische Pub-Gerichte anbieten muss: Das sind Chicken Tikka Masala, Maccaroni Cheese und vor allem Lasagne. Die Verbreitung von Eichhörnchen-Lasagne schreitet mittlerweile dermaßen schnell voran, dass der Verzehr der Nager in der Kategorie Wildfleisch hinter Hirsch und Fasan bereits an dritter Stelle liegt.
Eine Entwicklung, die der englische Gesundheitsminister begrüßen dürfte. Denn die bisher bekannten Spezialitäten grenzen ernährungswissenschaftlich betrachtet fast schon an Selbstmord. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Clotted Cream. Dabei handelt es sich um dicken Rahm, der aus roher Kuhmilch hergestellt wird. Diese Milch wird zunächst in flachen Pfannen erhitzt und dann für mehrere Stunden stehen gelassen. Der Rahm sammelt sich an der Oberfläche und bildet Klümpchen („clots“) – und fertig ist die Creme, die einen Fettgehalt von mindestens 55 Prozent, nicht selten aber bis zu 94 Prozent aufweist. Als veritable Fettbomben gelten auch frittierte Mars-Riegel. Hier werden gefrorene Mars-Riegel in einen Teig getaucht und frittiert – wodurch sich die Anzahl der Kilokalorien verdoppelt. Eine Portion hat also bis zu 1000 Kilokalorien.
Ob Black Pudding, eine Art Blutwurst, oder Fish and Chips: Britische Hausmannskost trieft vor Fett. Und wenn dann noch Steak and Kidney Pie serviert werden, fühlen sich nicht wenige an Hundefutter erinnert. Es handelt sich hierbei um gekochte Nieren und Rindfleischwürfel, die in einer buttrigen Teighülle serviert werden. Dagegen ist ein Lammbraten mit Minzsauce doch wieder ein erquickliches Vergnügen. Dieses Gericht inspiriert die Briten womöglich noch zu einem neuen Nationalgericht: frittierte Minzblättchen à la „After 80“.
Der dazu gehörige Werbespot könnte so aussehen: Prince Philipp gibt Prince Charles ein frittiertes After-80-Minzblättchen, zeigt auf den Buckingham Palace und sagt: „One day – this will all be yours.“