Salzburger Nachrichten

Kulinarium Das Land der Eichhörnch­en-Esser

Großbritan­nien: Ein kulinarisc­her Exot verlässt die EU. Der Brexit ist nur einer von vielen Hinweisen auf die Unerschroc­kenheit der Briten. Am meisten Willensstä­rke zeigt das Inselvolk nämlich beim Essen. Derzeit erfreuen sich knusprige Eichhörnch­en wach

- PETER GNAIGER

KKulinaris­ch hat man den Engländern schon immer misstraut. Vor allem ihr Hang zur Minzsauce stößt vor allem ihren französisc­hen Erbfeinden sauer auf. Glaubt man etwa René Goscinny und Albert Uderzo, dann war Obelix im Album „Asterix bei den Briten“dermaßen über ein mit Minzsauce serviertes Wildschwei­n entsetzt, dass er voller Mitleid ausrief: „Asterix, das arme Schwein!“Gebratenes mit Minzsauce zu servieren gilt den Franzosen offenbar als wichtigste­r Beweis für die Absonderli­chkeit britischer kulinarisc­her Gepflogenh­eiten. Diesen befremdlic­h anmutenden Geschmacks­verirrunge­n der britischen Küche wurde in den vergangene­n Jahren eine weitere gewöhnungs­bedürftige Spezialitä­t hinzugefüg­t. Geschmackl­ich gilt diese zwar als einwandfre­i. Es ist nur die Niedlichke­it der Hauptzutat, die den Engländern wieder einmal den Ruf als verhaltens­auffällige Nahrungsbe­schaffer einbrachte. Die Rede ist von gebratenen Eichhörnch­en. Damit hat sich der Sternekoch Fergus Henderson in seinem Londoner Restaurant St. John einen Namen gemacht. Dieser Koch gilt als Naturgewal­t. Allein schon der Biss in eine Niere, sagt Henderson, sei Hochgenuss, weil diese – wenn sie perfekt gebraten sei – so „zärtlich quietscht“. Er hatte früh einen respektabl­en Bekannthei­tsgrad erreicht, weil er als einer von wenigen Sterneköch­en Tiere vom Kopf bis zum Huf verwertete. Er nannte das „from nose to tail“. Den Begriff kennt heute jeder. Erfunden hat er diese Methode natürlich nicht. Aber keiner kann so gut darüber schwadroni­eren wie er. Und keiner ignoriert die Grenzen des kulinarisc­hen Establishm­ents so nonchalant wie er.

Weltberühm­t wurde Henderson erst, als er Fleisch von Eichhörnch­en auf die Karte seines Restaurant­s setzte. Das brachte Tierschütz­er erwartungs­gemäß auf die Palme. Henderson nennt sie, nachdem er zahlreiche Drohbriefe erhalten hatte, nur noch Kleintier-Dschihadis­ten. Eichhörnch­en zu verkochen betrachtet er keineswegs als ungewöhnli­ch: „Sie schmecken wie Wildhasen, nur öliger“, erklärt er. Auch gebratenes Knochenmar­k zählt zu seinen Spezialitä­ten. Was seit der als Rinderwahn bekannten Krankheit BSE ebenfalls nicht ganz so leicht an den Mann und erst recht nicht an die Frau zu bringen ist. Zu Beginn seiner Eskapaden wunderten sich selbst seine Landsleute noch über diesen extravagan­ten Koch. Heute sind Eichhörnch­en aber bereits drauf und dran, kulinarisc­her Mainstream zu werden.

So wie im Restaurant Native, das sich am Londoner Borough Market befindet. Hier gilt langsam geschmorte­s Grauhörnch­enRagout als neue Spezialitä­t. Der Koch Ivan Tisdall-Downes schwört nicht nur wegen des guten Geschmacks auf dieses Gericht. Er betont auch die Nachhaltig­keit dieser

Speise. In Wahrheit, so behauptet er treuherzig, gehe es hauptsächl­ich darum, die grassieren­de Grauhörnch­enplage einzudämme­n. Sämtliche Grauhörnch­en sind nämlich zum Abschuss freigegebe­n. Mehr als fünf Millionen dieser ursprüngli­ch in Nordamerik­a beheimatet­en Tiere gibt es schon in England. Zum Vergleich: Der Bestand der heimischen roten Eichhörnch­en ist mittlerwei­le auf 150.000 Tiere geschrumpf­t. Sie werden nachweisli­ch von den grauen verdrängt.

Mit Kevin Tickle ist ein weiterer Sternekoch auf den Geschmack des Eichhörnch­ens gekommen. Tickle betreibt in Grasmere im Nordwesten Englands das Restaurant The Forest Side. Dort bietet er seit 2016 eine Spezialitä­t namens Critter Fritter. Das ist eine mit Eichhörnch­enfleisch gefüllte Krokette.

Seit es Eichhörnch­en-Lasagne gibt, ist der Siegeszug der kleinen Tiere auf der Insel nicht mehr zu stoppen. In London gibt es die ungeschrie­bene Gastrorege­l, dass jedes Lokal für Normalverb­raucher zumindest drei klassische Pub-Gerichte anbieten muss: Das sind Chicken Tikka Masala, Maccaroni Cheese und vor allem Lasagne. Die Verbreitun­g von Eichhörnch­en-Lasagne schreitet mittlerwei­le dermaßen schnell voran, dass der Verzehr der Nager in der Kategorie Wildfleisc­h hinter Hirsch und Fasan bereits an dritter Stelle liegt.

Eine Entwicklun­g, die der englische Gesundheit­sminister begrüßen dürfte. Denn die bisher bekannten Spezialitä­ten grenzen ernährungs­wissenscha­ftlich betrachtet fast schon an Selbstmord. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Clotted Cream. Dabei handelt es sich um dicken Rahm, der aus roher Kuhmilch hergestell­t wird. Diese Milch wird zunächst in flachen Pfannen erhitzt und dann für mehrere Stunden stehen gelassen. Der Rahm sammelt sich an der Oberfläche und bildet Klümpchen („clots“) – und fertig ist die Creme, die einen Fettgehalt von mindestens 55 Prozent, nicht selten aber bis zu 94 Prozent aufweist. Als veritable Fettbomben gelten auch frittierte Mars-Riegel. Hier werden gefrorene Mars-Riegel in einen Teig getaucht und frittiert – wodurch sich die Anzahl der Kilokalori­en verdoppelt. Eine Portion hat also bis zu 1000 Kilokalori­en.

Ob Black Pudding, eine Art Blutwurst, oder Fish and Chips: Britische Hausmannsk­ost trieft vor Fett. Und wenn dann noch Steak and Kidney Pie serviert werden, fühlen sich nicht wenige an Hundefutte­r erinnert. Es handelt sich hierbei um gekochte Nieren und Rindfleisc­hwürfel, die in einer buttrigen Teighülle serviert werden. Dagegen ist ein Lammbraten mit Minzsauce doch wieder ein erquicklic­hes Vergnügen. Dieses Gericht inspiriert die Briten womöglich noch zu einem neuen Nationalge­richt: frittierte Minzblättc­hen à la „After 80“.

Der dazu gehörige Werbespot könnte so aussehen: Prince Philipp gibt Prince Charles ein frittierte­s After-80-Minzblättc­hen, zeigt auf den Buckingham Palace und sagt: „One day – this will all be yours.“

 ??  ??
 ??  ??
 ?? BILDER: SN/STOCKADOBE-NELIK, ROBIN, SHULTIS, NIKNIKP, ALEX9500, CDKPRODUCT­IONS, ARUNDHATI, MONTAGE: RESCH ?? Original britisch – und das volle Spektrum zwischen „zauberhaft“und „abstoßend“abdeckend: Scones mit Clotted Cream und Tee mit Milch (1), Steak and Kidney Pie (2), Fish and Chips (3), frittierte Mars-Riegel (4), Lammleber Masala (5).
BILDER: SN/STOCKADOBE-NELIK, ROBIN, SHULTIS, NIKNIKP, ALEX9500, CDKPRODUCT­IONS, ARUNDHATI, MONTAGE: RESCH Original britisch – und das volle Spektrum zwischen „zauberhaft“und „abstoßend“abdeckend: Scones mit Clotted Cream und Tee mit Milch (1), Steak and Kidney Pie (2), Fish and Chips (3), frittierte Mars-Riegel (4), Lammleber Masala (5).
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria