Die Schleier der Liebe verschieben sich
Aus Schummrigkeit wird eindeutige, harte Liebe: Eine Regisseurin zieht Arthur Schnitzlers „Reigen“ins Heute.
„Ich bin nicht schuld!“, ruft Marie. Soeben ist sie vom Soldaten fast vergewaltigt worden, wenngleich sie ihn beim Tanz oder mit „Sei’n S’ nicht so keck!“und hingesäuseltem „Hast mi eh gern?“gereizt hat. Als er sie dann zum Sex zu Boden schmeißt, ist das für sie nimmer lustig. Anders als in Arthur Schnitzlers „Reigen“stellt sich die Schauspielerin Magdalena Oettl nach dem zweiten von „Zehn Dialogen“vor die Zuschauer im Studio des Schauspielhauses Salzburg und deklamiert: Es werde gesagt, die Frauen seien doch selber schuld, also würden die Frauen bestraft. Doch: „Ich bin nicht schuld!“
Zunächst hat die aus Luxemburg stammende Regisseurin Anne Simon den „Reigen“, wie er am Samstag Premiere hatte, schnitzlerisch komponiert: Die Liebe ergibt eine Nummer nach der anderen, und die Liebesschwüre samt hier schonungslos dargestellter Körperlichkeit werden paarweise weitergegeben – von Dirne an Soldat, von diesem ans Stubenmädl, weiter an jungen Herrn, verheiratete Frau, Ehemann, süßes Mädel et cetera. Also hat Ausstatterin Isabel Graf eine Manege gebaut. Die ist von schwarzem Schleier umhangen, der nach und nach weggeschoben wird. Diese Schummrigkeit passt zu Schnitzlers „Reigen“: Das halb Erkennbare ist verlogener Feigheit ebenso zu eigen wie Erotik und Höflichkeit.
„Bitt’ schön, junger Herr?“So beginnt Magdalena Oettl als Stubenmädel die Szene mit Simon JaritzRudle als jungen Herrn. Dann zeigt Anne Simon, wie sie simples Theaterspiel aufzubrechen versteht und Darsteller animiert. Beide sprechen Regieanweisungen und kontrastieren die sexuelle Anbahnung: voneinander fern stehend, wenn ihr Begehren schwillt, und sich berührend, als ihre Gemüter am nicht geplanten Gewaltakt zerschellt sind.
Tilla Rath und Magdalena Oettl spielen immer wieder mit heutigem femininen Selbstbewusstsein. Um aber Figuren in die Schnitzler-Zeit zu setzen, beispielsweise in ein heute so kaum nachvollziehbares Ehegespräch wie im „Reigen“, liest Tilla Rath als junge Ehefrau kurzerhand aus dem Reclam-Buch vor, während Bülent Özdil als Ehemann karierte Knickerbocker anzieht. Solch einfühlsames Vexierspiel von jetzt und einst deutet an, wie das Frühere ins Heutige wirkt.
Szene für Szene entfernt sich die Aufführung von Schnitzler – weg von einem in der Epoche verharrenden Kreis, hin zur chronologischen Linie, die über den gloriosen Sager „Jede Frau hat zwei Lebensfragen: Was soll ich anziehen? Was soll ich kochen?“aus der Puddingwerbung der 50er-Jahre bis zur MeTooAnklage frisch aus dem Weinstein-Prozess führt. Leider führt sie auch weg von subtiler, nie die Zartheit verratender Doppelbödigkeit hin zu erotiklosem Geschlechtsakt, was vor allem die vorletzte Szene vergeigt. Dies ist – neben dem Kauderwelsch aus angedeutetem Wienerisch, etwas Bairisch und schlampigem Hochdeutsch – das SchnitzlerWidrige dieses sonst vitalen Theaterspiels, das sich aber am Ende mit klugem Kniff erfängt: Die Dirne, schon in der ersten Szene „Alexa“genannt, steht als farblose Puppe da, auf die Regungen nur noch projiziert werden.