Ein Roman gibt Einblick in heutige Armut
Der deutsche Journalist Christian Baron erzählt von der Not seiner Kindheit und Jugend.
An Familiengeschichten lässt sich Individuelles wie Allgemeines beschreiben. Familien markieren den Geist eines Zeitalters; und weil sie sich aber aus eigenwilligen Einzelnen zusammensetzen, funktioniert jede Familie innerhalb eines vorgegebenen historischen Rahmens. In diesem finden Geschichten statt, die ein Fall für die Psychologie sind – oder die Literatur, wie das Ende der Vorwoche erschienene Buch „Ein Mann seiner Klasse“.
Als Journalist versteht sich Christian Baron auf den Umgang mit Sprache, sodass er sich seiner Vergangenheit vergewissern kann. Es geht hart zur Sache in dieser Familie aus der Unterschicht, wo Alkohol und Gewalt eine schreckliche Symbiose
eingehen. Eigentlich ist vorhersehbar, wie es mit Christian und seinen Geschwistern weitergeht: Sie bleiben ihrem Milieu verhaftet, sie stehen als Verlierer der Zukunft fest. Der Autor aber tanzt aus der Reihe. Er schlägt den Bildungsweg ein, arbeitet sich nach oben und erwirbt die Fertigkeit, seine Lage zu reflektieren. Indem er sich erinnert an Vorkommnisse seiner Kindheit und Jugend und daraus griffige Episoden schlägt, begreift er, was die soziale Klasse aus Menschen macht. Gäbe es nicht ihn als Ausnahme, müsste man annehmen, dass Schicksale durch ein Milieu auf alle Zeit festgeschrieben sind.
Die Erinnerungen allein wären zu dürftig, um daraus ein Buch zu fertigen. Der 35-jährige Autor malt Szenen kräftig aus, er bildet Dialoge, in denen sich der Charakter von Personen
niederschlägt – ohne Fantasie läuft das nicht ab. Das romanhafte Vorgehen verschafft ihm den Vorteil, die Vorstellungskraft von Lesern, die in eine unbekannte Parallelgesellschaft der Grobschlächtigkeit vorstoßen, zu befördern. Christian Baron verzichtet auf reflexive Interventionen, auf Analyse, auf soziologische Einordnung der Familie in ein Gesellschaftsraster, er baut auf die Kraft der Anschauung.
Die ist heftig, geht unter die Haut, legt es darauf an, zartfühlende Seelen zu verletzen.
Beide Eltern sind tot. Die Mutter starb an Eierstockkrebs im Alter von 32 Jahren, den Vater ruinierte der Alkohol. Er steigt im Buch als ein dumpfer Mensch aus, ein Prügler und Großmaul, dem das Kind dennoch Bewunderung entgegenbringt. Die Mutter hätte wohl das Zeug dazu gehabt, etwas aus sich zu machen, hätte sie die Möglichkeit dazu bekommen. Sie schrieb Gedichte und bildete den Rückhalt für ihre Kinder. In jungen Jahren war sie eine Schwärmerin, eine Luftschlossbewohnerin, um dann im existenziellen Elend zu landen. Dass Depressionen sie heimsuchen, darf nicht verwundern.
Die Wohnverhältnisse erweisen sich als katastrophal. Schimmel an den Wänden, soziale Kontrolle. Als der Vater vorübergehend arbeitslos wird, weil er als Möbelpacker beim Klauen von Kisten erwischt wird, bricht in der Familie die Hungersnot aus. Weil das peinlich ist, darf das niemand wissen. So beklemmend ist sonst kaum zu lesen, was es bedeutet, im Prekariat zu leben.
Wer soll denn darüber auch ungekünstelter schreiben als jemand, der die Not am eigenen Leib erfahren hat? Christian Baron weist die Erfahrung des Mangels nicht als etwas Sensationelles aus, um eine Horrorgeschichte für verwöhnte Bürger zu liefern. Die Sprache bleibt zurückhaltend, bauscht nicht auf, der Tatbestand allein ist erschütternd genug. Dennoch ist das Buch keine Orgie in Tristesse. Es gibt auch Glücksmomente in verkrümmten Lebensläufen.