Eine Frau opfert sich für ihre Vision
Amélie Niermeyer inszenierte in der Wiener Staatsoper „Leonore“, die Urfassung von Beethovens „Fidelio“– und scheiterte.
Man muss bis in die Ära Ioan Holender zurückgehen, um sich eines vergleichbaren, kollektiven Buh-Orkans des eigentlich geduldigen Wiener Staatsopernpublikums zu entsinnen. Vera Nemirova schaffte es 2009 mit „Macbeth“, es war Holenders letztes Jahr als Operndirektor. Eine Parallele? Nun nimmt Dominique Meyer Abschied von Wien, um die Mailänder Scala zu übernehmen, auch ihm wird wohl die tobende Ablehnung im Ohr nachhallen. Sie kam wenig überraschend, als die Regisseurin Amélie Niermeyer vor den Vorhang trat am Samstag nach der Premiere, die eigentlich als Höhepunkt des Beethoven-Jahres gedacht war.
Es geht um „Leonore“aus dem Jahr 1805, also die Urfassung von Beethovens „Fidelio“, dessen endgültige, dritte Fassung seit 1816 zum Kanon der Opernliteratur gehört. An der Wiener Staatsoper steht seit 1970 die Inszenierung von Otto Schenk als unantastbares Heiligtum auf dem Spielplan. Nun kam also „Leonore“hinzu – und Amélie Niermeyer. Und ihre vielfältigen Ideen.
Ein Kunstwerk umzuschreiben ist das eine, aber man sollte bei der
Bühnenarbeit auch das Handwerk beherrschen und sich nicht in Verlegenheitslösungen verheddern, die lächerlich bis ärgerlich wirken. Ein Beispiel: Zur Ouvertüre – man spielt die 2. Leonoren-Ouvertüre am angestammten Platz – gibt es einen „Vorspann“. Ein kleiner Bühnenausschnitt zeigt ein Paar, das sich in fröhlicher Laune samt Getränk in einem Bett vergnügt, und plötzlich ist der Mann verschwunden. Glück hat, wer richtig sitzt, an einem seitlichen Logenplatz bleibt das Geschehen völlig verborgen. Erster Ärger. Diese „Sichteinschränkung“setzt sich in vielen weiteren Szenen fort ob der gedankenlosen Randpositionierung der Protagonisten. Dabei wäre in der heruntergekommenen Bahnhofshalle des Bühnenbildners Alexander MüllerElmau genügend Spielplatz.
Amélie Niermeyer siedelt „Leonore“ja in einem heutigen Regime an, das Gegner willkürlich verhaftet und das wegen Überfüllung der Staatsgefängnisse auf diesen Bahnhof ausweichen muss. Hier ist auch Florestan gelandet, quasi direkt aus dem Bett. Und hier wird er auch von seiner liebenden Frau gesucht, die sich in Männerkleidern als Fidelio im Haushalt des Gefängnischefs Rocco eingenistet hat. Und prompt die Liebe von Marzelline auf sich zieht, die ihren Verehrer Jaquino loswerden will. Man kennt die Geschichte von „Fidelio“, Beethovens einziger Oper oder besser: einem heterogenen Gemisch aus Singspiel, Operndrama und oratorienhafter Menschheitserlösung. Der holprige Singspielanteil wird unterschiedlich bewältigt, Amélie Niermeyer schafft Klarheit, indem sie Leonore verdoppelt mit einer Schauspielerin. Mit dieser „inneren Stimme“kann Leonore/Fidelio nicht nur Zweifel besprechen, das Double treibt sogar das Geschehen an und erweitert – in heutiger Sprache des Zutexters Moritz Rinke – den Befreiungskrimi zur weltumspannenden Erlösungsvision. Es geht nicht mehr „nur“darum, einen politischen Gefangenen zu befreien. Eine Vision muss her, und da entgleitet Amélie Niermeyer das Finale szenisch total.
Ja, sie erzählt plausibel, der elegante Fiesling Pizarro – Thomas Johannes Mayer geht akustisch leider unter – will seinen eingekerkerten Erzfeind Florestan – Benjamin Bruns schafft wunderbar die Tenorklippen – noch rasch ermorden, ehe der Minister (Samuel Hasselhorn als unauffälliger Lackaffe) alles aufdecken kann. Der korrupte Rocco – Falk Struckmann mit profundem
Bass – bereichert sich ungeniert an den eingelieferten Polit-Opfern und freut sich auf seinen „Schwiegersohn“ebenso wie Marzelline, die sogar ein Hochzeitsmahl „vorprobiert“. Chen Reiss ist als Marzelline ausgezeichnet, Jörg Schneider als latent gewalttätiger Jaquino ebenso.
Für Leonore – Jennifer Davis hat einen durchschlagkräftigen Sopran – endet der Befreiungsversuch tödlich, Pizarro sticht diesmal zu. Ab nun schlägt Niermeyers Fantasie Haken, Florestan ist frei und blitzartig erholt, die „namenlose Freude“des Paares wird getrennt voneinander besungen, das Double (Katrin Röver) tanzt kindisch herum, und vollends von den Socken ist man, als „das Volk“in augenschmerzenden Glitzerpartykostümen (Annelies Vanlaere) auftaucht und hymnischen Pathos daherjubelt. Absurd. Die verblutende Leonore und Florestan scheinen nicht von der Begeisterung angesteckt zu sein. Was folgte, war klar: Die Sänger und auch der Chor konnten sich feiern lassen, Dirigent Tomáš Netopil hielt das routinierte Staatsopernorchester brauchbar im Zaum und erntete Lob. Aber dann …
Oper: