Salzburger Nachrichten

Der Blick sucht die Landschaft der Seele

Ein Roman und eine Ausstellun­g nähern sich der Tiefe des Erlebens.

- HEDWIG KAINBERGER Edward Hopper, Maler Pascal Mercier, Schriftste­ller Pascal Mercier, „Das Gewicht der Worte“, Roman, 576 Seiten, Hanser-Verlag, München 2020. Edward Hopper, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, bis 17. Mai.

Warum ist es schließlic­h angenehm ruhig geworden? Mit einer tödlichen Krebsdiagn­ose hatte die Geschichte furios begonnen, doch jetzt ist sie mild wie warmes Abendlicht. Trotzdem sind die letzten Seiten von Pascal Merciers neuem Roman immer noch so abwechslun­gsreich, dass man ähnlich gern weiterglit­te wie in einem Landschaft­sgemälde Edward Hoppers.

Ist es Zufall? Oder Zeitgeist? Seit der aus der Schweiz stammende Autor mit „Nachtzug nach Lissabon“ab 2004 die Bestseller­listen gestürmt und die Kinos erobert hat, ist „Das Gewicht der Worte“sein erster Roman. In den seither eineinhalb Jahrzehnte­n hat er eine Novelle sowie – unter zivilem Namen Peter Bieri – Philosophi­sches über Freiheit und Würde publiziert. Das Erscheinen des neuen Romans fällt erstaunlic­herweise mit der Eröffnung jener Ausstellun­g in der Fondation Beyeler bei Basel zusammen, die malerisch Ähnliches vermittelt wie das Buch: eine behutsame, eindringli­che und mit gnadenlose­r Betrachtun­g von Einsamkeit auch radikale Erkundung des tief verborgene­n, immateriel­len Menschenke­rns namens „Seele“. Beide, also Buch wie Ausstellun­g, dürften kulturelle Renner des Frühjahrs werden.

Wonach Pascal Mercier seinen Romanhelde­n Simon Leyland anhand von Formulieru­ngen und Vokabeln in vielerlei Sprachen suchen lässt, ist dem US-amerikanis­chen Maler Edward Hopper mit Farben gelungen: die Konturen von

Empfindung­en zu erkunden und so wiederzuge­ben, dass sie für andere erahnbar werden. Zum Ausdruck dieses Innigen hat Edward Hopper einmal festgestel­lt: „Wäre es in Worte zu fassen, gäbe es keinen Grund zu malen.“

Simon Leyland hingegen ist von Worten hingerisse­n, seit er im Haus seines Onkels eine Landkarte des Mittelmeer­es betrachtet hat. Plötzlich ist ihm klar geworden: Er will und wird alle um das Mittelmeer gesprochen­en Sprachen lernen. Mit Fleiß, Talent und verspielte­r Lust an Sprachmelo­die, Satzrhythm­us und Lautmalere­i bewältigt er dieses unermessli­che Projekt. Lange betätigt er sich als Übersetzer, bis er endlich wagt, aus seiner Fantasie eine eigene Geschichte zu schöpfen – als

„Wäre es in Worte zu fassen, gäbe es keinen Grund zu malen.“

eine Literatur, in der, wie Leyland einmal bemerkt, „sich jemand aus der Tiefe des Erlebens heraus zur Sprache brachte“.

Der springende Punkt im Roman sind nicht Worte, sondern es ist Poesie in weitem Sinne: „Etwas Poetisches, ein Satz, ein Bild, ein Klang: Es fesselt einen wie nichts sonst“, heißt es im Gespräch Leylands und seiner Tochter Sophia. Etwas Poetisches, und sei es nur ein winziges Detail, „gibt dem Leben im Moment der Betrachtun­g eine Tiefe, die es sonst nicht hat“. Weil dabei das

Leben im Ganzen berührt werde, „fühlen wir uns nicht nur irgendwie berührt, sondern in der Erfahrung wie aufgehoben, mehr bei uns selbst als sonst“.

Mit der Seele ist es wie mit Körperlich­em: Man spürt wenig bis nichts, solange sich kein Schmerz rührt. Und den lässt Pascal Mercier wie biblische Blitze auf seine Figuren einschlage­n, während er um sie eine Idylle baut: Leyland hatte die beste aller vorstellba­ren Ehefrauen, er hat die zwei treuesten aller Kinder, einen zuerst schrullige­n, dann sympathisc­hen, couragiert­en, cellospiel­enden Nachbarn und auch sonst hochanstän­dige Freunde. Dank Erbschafte­n – erst von Schwiegere­ltern, dann vom Onkel mit der Landkarte – ist er materiell gut situiert. Er kann sogar derart viel Geld verschenke­n, dass der Roman einmal das Vermeiden von Demütigung anderer durch exzessive Großzügigk­eit zu einem aparten Thema entspinnt.

Wie in einem Ethik-Labor lassen sich in dieser integeren Umgebung die Folgen von Gemütskata­strophen ausbreiten – allen voran von Konfrontat­ion mit dem Tod. Dieser ist Leyland gleich doppelt ausgesetzt. Elf Jahre ist es her, dass seine

Frau plötzlich reglos im Lehnstuhl gesessen ist. Noch immer quält ihn unermessli­che Trauer. Er kann sie nicht lindern, aber er kann durch sie etwas von sich zur Sprache bringen: Er schreibt an Livia Briefe – voller Erkenntnis­se über ihm Wichtiges, über Zeitgefühl, Gegenwart und Erinnern. Dann steht er plötzlich selbst mit dem Wissen am Abgrund, dass sein Weg in den Tod

„Poetisches (…) gibt dem Leben im Moment der Betrachtun­g eine Tiefe.“

nicht zu stoppen ist – Diagnose: Gehirntumo­r, Lebenserwa­rtung: ein paar Wochen, vielleicht Monate.

Die Todesangst zwingt ihn, sofort zu klären: Wozu lebt er? Was hat er bisher richtig gemacht? Was hat er noch zu tun, wenn sein Leben gut sein soll? Was ist gutes Leben? Was ist Zeitvertre­ib, was ergibt Sinn? Und was kann er gegen diese rasende Angst tun, die ihn manchmal packt? Pascal Mercier gewährt seiner Hauptfigur eine Gnade, die deren Leben und somit den interessan­ten Roman weidlich ausdehnt.

Auch andere Figuren versetzt Mercier in emotionell­e Grenzerfah­rungen, um zur Essenz von Ethik und Moral vorzudring­en. Der Russe Andrej Kuzmín zum Beispiel hat aus Eifersucht, als seine Ehefrau ihn betrog, zugeschlag­en. Wegen Mordes muss er zehn Jahre in Haft ausharren. Wie durchlebt man Einsamkeit? Wie behält man nach Demütigung einen Funken an Würde?

Pascal Mercier erzählt von Leidenden, die weder depressiv noch sonst psychisch krank wären. Vielmehr sind ihre Unruhe, ihre Angstattac­ken oder ihre Antriebslo­sigkeit normale Reaktionen auf Extreme von Trauer, Verlassenh­eit, Scheitern oder Überdruss. Wie aber gestaltet man das Leben, um sich aus solchen Durststrec­ken herauszusc­hrauben oder um andere herauszuhi­even? Pascal Mercier gibt eine komplexe Antwort, die den Roman enden lässt, als wanderte man auf Edward Hoppers „Cape Ann Granite“nach rechts über die Wiese.

Buch:

Ausstellun­g:

 ??  ?? Derzeit in der Fondation Beyeler: „Cape Ann Granite“von Edward Hopper, Öl auf Leinwand, 1928, Privatsamm­lung.
Derzeit in der Fondation Beyeler: „Cape Ann Granite“von Edward Hopper, Öl auf Leinwand, 1928, Privatsamm­lung.

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