Der Blick sucht die Landschaft der Seele
Ein Roman und eine Ausstellung nähern sich der Tiefe des Erlebens.
Warum ist es schließlich angenehm ruhig geworden? Mit einer tödlichen Krebsdiagnose hatte die Geschichte furios begonnen, doch jetzt ist sie mild wie warmes Abendlicht. Trotzdem sind die letzten Seiten von Pascal Merciers neuem Roman immer noch so abwechslungsreich, dass man ähnlich gern weiterglitte wie in einem Landschaftsgemälde Edward Hoppers.
Ist es Zufall? Oder Zeitgeist? Seit der aus der Schweiz stammende Autor mit „Nachtzug nach Lissabon“ab 2004 die Bestsellerlisten gestürmt und die Kinos erobert hat, ist „Das Gewicht der Worte“sein erster Roman. In den seither eineinhalb Jahrzehnten hat er eine Novelle sowie – unter zivilem Namen Peter Bieri – Philosophisches über Freiheit und Würde publiziert. Das Erscheinen des neuen Romans fällt erstaunlicherweise mit der Eröffnung jener Ausstellung in der Fondation Beyeler bei Basel zusammen, die malerisch Ähnliches vermittelt wie das Buch: eine behutsame, eindringliche und mit gnadenloser Betrachtung von Einsamkeit auch radikale Erkundung des tief verborgenen, immateriellen Menschenkerns namens „Seele“. Beide, also Buch wie Ausstellung, dürften kulturelle Renner des Frühjahrs werden.
Wonach Pascal Mercier seinen Romanhelden Simon Leyland anhand von Formulierungen und Vokabeln in vielerlei Sprachen suchen lässt, ist dem US-amerikanischen Maler Edward Hopper mit Farben gelungen: die Konturen von
Empfindungen zu erkunden und so wiederzugeben, dass sie für andere erahnbar werden. Zum Ausdruck dieses Innigen hat Edward Hopper einmal festgestellt: „Wäre es in Worte zu fassen, gäbe es keinen Grund zu malen.“
Simon Leyland hingegen ist von Worten hingerissen, seit er im Haus seines Onkels eine Landkarte des Mittelmeeres betrachtet hat. Plötzlich ist ihm klar geworden: Er will und wird alle um das Mittelmeer gesprochenen Sprachen lernen. Mit Fleiß, Talent und verspielter Lust an Sprachmelodie, Satzrhythmus und Lautmalerei bewältigt er dieses unermessliche Projekt. Lange betätigt er sich als Übersetzer, bis er endlich wagt, aus seiner Fantasie eine eigene Geschichte zu schöpfen – als
„Wäre es in Worte zu fassen, gäbe es keinen Grund zu malen.“
eine Literatur, in der, wie Leyland einmal bemerkt, „sich jemand aus der Tiefe des Erlebens heraus zur Sprache brachte“.
Der springende Punkt im Roman sind nicht Worte, sondern es ist Poesie in weitem Sinne: „Etwas Poetisches, ein Satz, ein Bild, ein Klang: Es fesselt einen wie nichts sonst“, heißt es im Gespräch Leylands und seiner Tochter Sophia. Etwas Poetisches, und sei es nur ein winziges Detail, „gibt dem Leben im Moment der Betrachtung eine Tiefe, die es sonst nicht hat“. Weil dabei das
Leben im Ganzen berührt werde, „fühlen wir uns nicht nur irgendwie berührt, sondern in der Erfahrung wie aufgehoben, mehr bei uns selbst als sonst“.
Mit der Seele ist es wie mit Körperlichem: Man spürt wenig bis nichts, solange sich kein Schmerz rührt. Und den lässt Pascal Mercier wie biblische Blitze auf seine Figuren einschlagen, während er um sie eine Idylle baut: Leyland hatte die beste aller vorstellbaren Ehefrauen, er hat die zwei treuesten aller Kinder, einen zuerst schrulligen, dann sympathischen, couragierten, cellospielenden Nachbarn und auch sonst hochanständige Freunde. Dank Erbschaften – erst von Schwiegereltern, dann vom Onkel mit der Landkarte – ist er materiell gut situiert. Er kann sogar derart viel Geld verschenken, dass der Roman einmal das Vermeiden von Demütigung anderer durch exzessive Großzügigkeit zu einem aparten Thema entspinnt.
Wie in einem Ethik-Labor lassen sich in dieser integeren Umgebung die Folgen von Gemütskatastrophen ausbreiten – allen voran von Konfrontation mit dem Tod. Dieser ist Leyland gleich doppelt ausgesetzt. Elf Jahre ist es her, dass seine
Frau plötzlich reglos im Lehnstuhl gesessen ist. Noch immer quält ihn unermessliche Trauer. Er kann sie nicht lindern, aber er kann durch sie etwas von sich zur Sprache bringen: Er schreibt an Livia Briefe – voller Erkenntnisse über ihm Wichtiges, über Zeitgefühl, Gegenwart und Erinnern. Dann steht er plötzlich selbst mit dem Wissen am Abgrund, dass sein Weg in den Tod
„Poetisches (…) gibt dem Leben im Moment der Betrachtung eine Tiefe.“
nicht zu stoppen ist – Diagnose: Gehirntumor, Lebenserwartung: ein paar Wochen, vielleicht Monate.
Die Todesangst zwingt ihn, sofort zu klären: Wozu lebt er? Was hat er bisher richtig gemacht? Was hat er noch zu tun, wenn sein Leben gut sein soll? Was ist gutes Leben? Was ist Zeitvertreib, was ergibt Sinn? Und was kann er gegen diese rasende Angst tun, die ihn manchmal packt? Pascal Mercier gewährt seiner Hauptfigur eine Gnade, die deren Leben und somit den interessanten Roman weidlich ausdehnt.
Auch andere Figuren versetzt Mercier in emotionelle Grenzerfahrungen, um zur Essenz von Ethik und Moral vorzudringen. Der Russe Andrej Kuzmín zum Beispiel hat aus Eifersucht, als seine Ehefrau ihn betrog, zugeschlagen. Wegen Mordes muss er zehn Jahre in Haft ausharren. Wie durchlebt man Einsamkeit? Wie behält man nach Demütigung einen Funken an Würde?
Pascal Mercier erzählt von Leidenden, die weder depressiv noch sonst psychisch krank wären. Vielmehr sind ihre Unruhe, ihre Angstattacken oder ihre Antriebslosigkeit normale Reaktionen auf Extreme von Trauer, Verlassenheit, Scheitern oder Überdruss. Wie aber gestaltet man das Leben, um sich aus solchen Durststrecken herauszuschrauben oder um andere herauszuhieven? Pascal Mercier gibt eine komplexe Antwort, die den Roman enden lässt, als wanderte man auf Edward Hoppers „Cape Ann Granite“nach rechts über die Wiese.
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Ausstellung: