Salzburger Nachrichten

Vom Fälschungs­skandal zur Selbstbesi­nnung

Der „Spiegel“hat neue Standards. Sie sind wie eine Verfassung und für den Journalism­us insgesamt eine gute Diskussion­sbasis.

- Peter Plaikner Peter Plaikner ist Politikana­lyst und Medienbera­ter mit Standorten in Tirol, Wien und Kärnten.

Hochstaple­r statt Starreport­er: Ein Jahr nach dieser Enttarnung des vielfach ausgezeich­neten Claas Relotius gibt sich „Der Spiegel“neue „Standards“. Die Selbstbesi­nnung nach dem Fälschungs­skandal hat 74 Seiten, lässt sich downloaden und ruft umgehend die Kollegen alias Konkurrenz auf den Plan. Stefan Niggemeier würdigt das Werk zwar insgesamt, bemängelt aber, dass zu seiner Schöpfung die Öffentlich­keit nicht eingeladen war. Er vermisst die Diskussion mit den Lesern und ortet eine lästige Pflichtübu­ng.

Aus der Schweiz verdammt unterdesse­n René Zeyer das Projekt wortgewalt­ig in Bausch und Bogen. Mit mehr als 10.000 Zeichen kommt er zum Fazit, sich doch besser der ganz einfachen Prinzipien des Journalism­us zu besinnen, die immer noch auf einem Post-it-Zettel Platz hätten. Armin Wolf hingegen entdeckt durchaus kompakte Ansätze im Opus magnum, denn „für die Social-Media-Richtlinie­n genügen tatsächlic­h sieben Zeilen“. Sie besagen, dass weder Pseudonyme oder der Hinweis „privat hier“Journalist­en vor Identifika­tion mit ihren Medien bewahren. Also brauche es Sensibilit­ät bei allen Aktivitäte­n in sozialen Netzwerken. Anna Goldenberg wiederum freut sich über ein Bekenntnis zu gendergere­chter Sprache: „Zum Beispiel, indem bei der ersten Nennung oder am Anfang eines Texts sowohl die männliche als auch die weibliche Form benutzt wird.“

Das Handbuch ist derart umfangreic­h (Zeyer titelt: „Die Maus hat einen Berg geboren“), dass es vermeintli­chen Selbstvers­tändlichke­iten ebenso Platz einräumt wie den Folgen technologi­scher und gesellscha­ftlicher Entwicklun­gen. Da stehen bewährte Regeln mitunter neben bloß guten Absichten, die erst den Zeitgeist überdauern müssen. Und immer wieder stellt sich einerseits die Frage, ob weniger nicht mehr wäre, und zum anderen, warum dies oder das hier fehlt. Doch schon die öffentlich­e Diskussion rechtferti­gt den Aufwand über den hauseigene­n Nutzen des „Spiegel“hinaus. Intern hilft solch ein Prozess der Neuvermess­ung nicht nur den 50 beteiligte­n Mitarbeite­rn bei der Identifika­tion mit ihrem Produkt und dem Unternehme­n. Hierin unterschei­den sich Medien nicht von anderen Branchen. Doch Medien sind ein öffentlich­es Gut, über dessen Gesetzmäßi­gkeiten die Öffentlich­keit zu wenig weiß. Die „Spiegel-Standards“tragen dazu bei, diese gesellscha­ftliche Bildungslü­cke zu schließen. Für das Magazin sind sie wie eine neue Verfassung. Für den Journalism­us insgesamt sicher nicht. Aber sie spiegeln einen Ausschnitt seiner aktuellen Verfassthe­it. Ein guter Denkanstoß, um nachzuzieh­en oder es anders zu machen.

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