Vom Fälschungsskandal zur Selbstbesinnung
Der „Spiegel“hat neue Standards. Sie sind wie eine Verfassung und für den Journalismus insgesamt eine gute Diskussionsbasis.
Hochstapler statt Starreporter: Ein Jahr nach dieser Enttarnung des vielfach ausgezeichneten Claas Relotius gibt sich „Der Spiegel“neue „Standards“. Die Selbstbesinnung nach dem Fälschungsskandal hat 74 Seiten, lässt sich downloaden und ruft umgehend die Kollegen alias Konkurrenz auf den Plan. Stefan Niggemeier würdigt das Werk zwar insgesamt, bemängelt aber, dass zu seiner Schöpfung die Öffentlichkeit nicht eingeladen war. Er vermisst die Diskussion mit den Lesern und ortet eine lästige Pflichtübung.
Aus der Schweiz verdammt unterdessen René Zeyer das Projekt wortgewaltig in Bausch und Bogen. Mit mehr als 10.000 Zeichen kommt er zum Fazit, sich doch besser der ganz einfachen Prinzipien des Journalismus zu besinnen, die immer noch auf einem Post-it-Zettel Platz hätten. Armin Wolf hingegen entdeckt durchaus kompakte Ansätze im Opus magnum, denn „für die Social-Media-Richtlinien genügen tatsächlich sieben Zeilen“. Sie besagen, dass weder Pseudonyme oder der Hinweis „privat hier“Journalisten vor Identifikation mit ihren Medien bewahren. Also brauche es Sensibilität bei allen Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Anna Goldenberg wiederum freut sich über ein Bekenntnis zu gendergerechter Sprache: „Zum Beispiel, indem bei der ersten Nennung oder am Anfang eines Texts sowohl die männliche als auch die weibliche Form benutzt wird.“
Das Handbuch ist derart umfangreich (Zeyer titelt: „Die Maus hat einen Berg geboren“), dass es vermeintlichen Selbstverständlichkeiten ebenso Platz einräumt wie den Folgen technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Da stehen bewährte Regeln mitunter neben bloß guten Absichten, die erst den Zeitgeist überdauern müssen. Und immer wieder stellt sich einerseits die Frage, ob weniger nicht mehr wäre, und zum anderen, warum dies oder das hier fehlt. Doch schon die öffentliche Diskussion rechtfertigt den Aufwand über den hauseigenen Nutzen des „Spiegel“hinaus. Intern hilft solch ein Prozess der Neuvermessung nicht nur den 50 beteiligten Mitarbeitern bei der Identifikation mit ihrem Produkt und dem Unternehmen. Hierin unterscheiden sich Medien nicht von anderen Branchen. Doch Medien sind ein öffentliches Gut, über dessen Gesetzmäßigkeiten die Öffentlichkeit zu wenig weiß. Die „Spiegel-Standards“tragen dazu bei, diese gesellschaftliche Bildungslücke zu schließen. Für das Magazin sind sie wie eine neue Verfassung. Für den Journalismus insgesamt sicher nicht. Aber sie spiegeln einen Ausschnitt seiner aktuellen Verfasstheit. Ein guter Denkanstoß, um nachzuziehen oder es anders zu machen.