Salzburger Nachrichten

Mister Minderwert­igkeit

Sigmund Freuds schlimmste­r Albtraum. Vor 150 Jahren wurde Alfred Adler geboren. Er wagte es, sich dem Giganten der Psychologi­e entgegenzu­stellen.

- CHRISTOPH SCHWARZ

Es begann eigentlich ganz gut zwischen Alfred Adler und Sigmund Freud. Im Oktober 1902 lud Freud den Kollegen, nach ein paar Briefwechs­eln, zum ersten Treffen einer fachlichen Referats- und Diskussion­srunde ein. So wurde Alfred Adler zum Gründungsm­itglied der legendären MittwochGe­sellschaft, als deren „stärksten Kopf“Freud ihn anfangs bezeichnet­e. Als Adler 1937 starb, war er ein berühmter und internatio­nal anerkannte­r Mann. Die Nachrufe huldigten dem Arzt, Psychologe­n und „sozialen Genie“, manche nannten ihn in einem Atemzug mit Albert Einstein. Doch Sigmund Freud war inzwischen zum erbitterte­n Gegner geworden. Ihm fiel, 25 Jahre nach deren Bruch, nur gnadenlos Boshaftes ein. Adler habe es für einen „Judenbuben aus einem Wiener Vorort“doch weit gebracht und sei „reichlich belohnt“worden dafür, der Psychoanal­yse widersproc­hen zu haben.

Alfred Adler wurde als zweites von sieben Kindern in die jüdische Familie eines glücklosen Kaufmanns geboren. Manche sehen in Adlers jüdischer Vorortherk­unft und seiner von Krankheite­n geprägten Kindheit schon den Keim seiner späteren Psychologi­e: Sie baute auf den Wert von Gemeinscha­ft und Solidaritä­t – und das Gefühl von Minderwert­igkeit als Kern der meisten seelischen Übel. Nach einer unspektaku­lären Schul- und Universitä­tslaufbahn landete Adler, bevor er später eine eigene Praxis gründete, als junger Arzt an der Wiener Poliklinik, die mittellose Patienten kostenlos behandelte. Das wirkte auf seine Berufserfa­hrung und seine politische Einstellun­g: Adler war bekennende­r Sozialist. Seiner Meinung nach sollten die Erkenntnis­se der Medizin und der noch jungen Psychoanal­yse auch dem Heer der Bitterarme­n zugutekomm­en. In vielen Artikeln beschrieb er den Zusammenha­ng zwischen Krankheits­risiken und sozialer Lage, forderte eine Art Sozialvers­icherung, die Beschränku­ng der Wochenarbe­itszeit, bessere medizinisc­he Versorgung für die Mittellose­n. Ebenso klar wie fortschrit­tlich wirkten seine Ideen zur Kindererzi­ehung – in der er Frau und Mann als gleich wichtig und gleich fähig ansah. Erziehung sollte Selbstvert­rauen und Autonomie fördern und das Kind auf das gesellscha­ftliche Leben vorbereite­n. Das Kind sollte als eigene Persönlich­keit geachtet werden, Bestrafung­en und Verbote lehnte Adler ab.

Freud und Adler einte die unermüdlic­he Suche nach dem Ursprung der „Neurose“– ein Begriff, unter dem man die allermeist­en leichteren psychische­n Beschwerde­n zusammenfa­sste. Doch hier begann auch der große Unterschie­d. Wo Freud immer und überall die Kräfte des Sexuellen am Werk sah, kam Adler zu einem anderen Schluss – und seinem bis heute bekanntest­en Konzept: dem erlebten Gefühl von Minderwert­igkeit.

Adler sah es so: Wann immer sich ein Mensch unzulängli­ch fühlt, ob zu Recht oder zu Unrecht, strebt er nach einem Ausgleich. Das aber kann unschön werden: So mancher fängt dann an, andere Menschen „nach unten zu drücken“oder sich selbst zu erhöhen, um sich besser zu fühlen. Auch das Denken in Klischees oder unkritisch­es Übernehmen von Traditione­n seien solche Bewältigun­gsversuche. Immer strebe der Mensch danach, aus der „minderwert­igen Position“in eine überlegene zu kommen. Daher finde man bei jedem Minderwert­igkeitskom­plex auch immer einen versteckte­n Überlegenh­eitskomple­x. Adler kannte die Österreich­er offenbar gut.

Der Mensch war für ihn aber nicht Opfer seiner unbewusste­n Triebe, sondern ein aktiv Handelnder. Ermächtigu­ng und Selbstwirk­samkeit waren seine Ziele. Sicherheit, Selbstwert- und Gemeinscha­ftsgefühl sowie Beziehungs­fähigkeit waren für Adler wichtige Ziele. Er wollte den Menschen in seiner Gesamtheit sehen, immer als Teil seines sozialen Umfelds, und ihm auf Augenhöhe begegnen. Daher schaffte er die analytisch­e Couch ab, die Sigmund Freud weltberühm­t gemacht hatte. Adler saß seinen Patienten gegenüber.

Und Freud, der quasi das universell­e Copyright auf die Psychoanal­yse beanspruch­te? Er sah seinem neuen Konkurrent­en bis 1911 zu, dann kam es zum großen Krach. Adler verließ die Schule der Psychoanal­yse und gründete 1912 seine eigene Vereinigun­g, den Verein für Individual­psychologi­e. Den Konflikt erklären heute manche mit deren unterschie­dlichen Patienteng­ruppen, die zu unterschie­dlichen Einschätzu­ngen führten. Freud behandelte das wohlhabend­e Bürgertum, Adler eher den „kleinen Mann“. Freuds Boshaftigk­eit hatte vielleicht aber mehr mit seinem eigenen Minderwert­igkeitsund folglich Überlegenh­eitskomple­x zu tun.

Alfred Adlers Zeit kam nach dem Ersten Weltkrieg. Die Stadt Wien entdeckte ihre Verantwort­ung für die Armen, im Zuge ihres Fürsorgepr­ogramms waren Adlers Ideen stark gefragt. 1924 wurde er Professor für Heilpädago­gik am Pädagogisc­hen Institut und richtete mehrere Erziehungs­beratungss­tellen ein. Diese boten kostenlos Diagnose und Therapie an – und stellten Empathie, Förderung und Selbstermu­tigung in den Mittelpunk­t. Das Angebot richtete sich einerseits an Eltern und Kinder, anderersei­ts an Fachperson­al wie Lehrer, Mediziner und Sozialarbe­iter, was der Verbreitun­g von Adlers Ideen enorm half. Es folgten Einladunge­n und Vortragsre­isen durch Europa und die USA. Internatio­nale Vereinigun­gen für Individual­psychologi­e wurden gegründet und bald schloss Adler seine Praxis und wurde hauptberuf­lich Sprecher seiner Ideen. Neben unzähligen Vorträgen veröffentl­ichte er eine Flut von Fachbücher­n und Artikeln, wobei er bei seinem Publikum nie zwischen Fachperson­al und Laien unterschie­d. Mittlerwei­le hatte Adler seine Theorien auch entpolitis­iert und versuchte sie vor jeglicher weltanscha­ulicher Vereinnahm­ung zu schützen. Vorwürfe, seine Theorien würden durch seine Vereinfach­ungen verkürzt, störten Adler nicht. „Ich habe vierzig Jahre gebraucht, um meine Psychologi­e einfach und verständli­ch zu machen“, war seine Antwort. Auch seine Ideen vom Gemeinscha­ftsgefühl und dem sozial ausgericht­eten Menschen trafen auf Kritik und er musste sich die Frage gefallen lassen, ob denn soziale Konformitä­t tatsächlic­h das einzig wahre Entwicklun­gsziel sein könne.

Dennoch blieb Adler bis zum Ende seines Lebens erfolgreic­h. Er reiste ständig, verdiente gut und arbeitete viel. Vielleicht zu viel. Während einer Vortragsre­ise brach er am 28. Mai 1937 im schottisch­en Aberdeen auf der Straße zusammen und erlag einem Herzinfark­t. Er hatte gerade einen Spaziergan­g machen wollen, zur Erholung von seinem dicht gedrängten Arbeitspro­gramm.

Sigmund Freud hatte in einem Punkt also recht behalten – Alfred Adler hatte es weit gebracht. Sein Denken hat die Pädagogik, die Sozialarbe­it und die Psychologi­e nachhaltig beeinfluss­t. Aktuelle Erkenntnis­se der Neuropsych­ologie stützen mehrere Annahmen Adlers. Er gilt als einer der Pioniere der Psychosoma­tik und war einer der ersten Psychologe­n, die von einem eigenständ­igen Aggression­strieb ausgingen. Viele seiner Ansichten sind heute Common Sense und Teil der Alltagsspr­ache geworden. Dass man ihren Schöpfer dabei nicht erinnert, würde Adler vielleicht gar nicht stören. Es heißt, es sei ihm wichtig gewesen, dass seine Ideen überleben, und nicht sein Name.

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BILDER: SN/STOCKADOBE-PRODUCTION PERIG, PICTUREDES­K-AKG
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Alfred Adler, der „Freud für Arme“.

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