Salzburger Nachrichten

Mein Gott, die Kunst

- GASTAUTOR Jochen Jung Jochen Jung ist Verleger und Schriftste­ller.

Wir erwarten viel von ihr, sie aber auch von uns. Ohne zusammenhä­ngende Kenntnisse, also Bildung, können wir sie kaum begreifen, ganz zu schweigen von den wachen Sinnen, dem überraschu­ngsfreudig­en, hingebungs­willigen Hören der Musik ebenso wie der staunenden und rätselnden Wahrnehmun­g der bildenden Kunst. Apropos „Wahrnehmun­g“: Das irritieren­de Wort, das das korrekte Erkennen meint, versucht scheinbar auch darauf hinzuweise­n, dass unsere Betrachtun­g häufig der Sache das Wahre nimmt, um es mit dem Subjektive­n zu ersetzen, denn wer kennt sich in Dingen, die einen ansprechen, besser aus als man selbst? Dabei steigert es die Freude am Kunstwerk, wenn man weiß, dass man nicht der Einzige ist, dem es gefällt, wobei ich jetzt weniger an die Mona Lisa denke oder an Beethoven – beide sind auf kein Kompliment mehr angewiesen –, sondern eher an eine Entdeckung im Kino oder im Popkonzert.

Musik und Bilder sprechen uns über unsere realen Sinne an, die sich am Schein der Sonne ebenso wie am Nachtschat­ten üben, am Verkehrslä­rm wie am Vogelgezwi­tscher. Die bildende Kunst arbeitet mit Farben und Gegenständ­en so wie die Musik mit den Klängen von extra dafür erfundenen Instrument­en

und der menschlich­en Stimme, die vermutlich in der Steinzeit auf einmal merkte, dass sie nicht nur Laute zusammenst­ellen konnte, die dem Gegenüber etwas mitteilten, sondern auch – erst nur für sich, dann auch für andere – das Gemeinte in Tönen von sich gab, deren Bedeutung erst in der Aufmerksam­keit des Zuhörenden spürbar wurde.

Ja, die Musik und die Bilder; das Konzert und die Ausstellun­g; die Vögel und die Blumen. Aber war da nicht noch etwas? Natürlich, das Alltäglich­ste und Selbstvers­tändlichst­e, das wir verwenden, um unsere Art der Weltwahrne­hmung, also uns selbst, auch anderen verständli­ch zu machen: die Wörter, die Sprache, die Literatur. So selten, wie wir anderen etwas vorsingen oder -zeichnen, so häufig sprechen wir sie an, um sie unsere Erfahrung, unseren Willen und unsere Bedürfniss­e wissen zu lassen.

Dabei gehen wir davon aus, dass in der kleinen Welt all jener, die dieselbe Sprache gelernt haben, sofort verstanden wird, was der andere gesagt und gemeint hat. Aber man merkt, dass das, was die oder der gegenüber gesagt hat, auch einen Tonfall hat, eine psychische Musik, die mit der realen Mitteilung Empfindung­en, Unwillen, Zustimmung und all das in sehr persönlich­er Tonlage weitergibt, die das Gemeinte verdeutlic­ht und es in einer Gestalt auftreten lässt, die den Angesproch­enen und den Leser bewegen, die spüren, dass das Gesagte sie persönlich meint, egal, ob es sinnvoll oder von Sinnen scheint. Sprache spricht an, und das Einzige, was sie sich wünscht, wenn nicht fordert, ist Antwort, in welcher Form auch immer.

Bilder sehen wir im Museum, in Kirchen und Schlössern, Musik hören wir im Konzertsaa­l oder technisch vermittelt im Radio oder von der Schallplat­te, Literatur finden wir gelegentli­ch sogar in einer Zeitung, vor allem aber in Büchern. Die sind eine der genialsten Erfindunge­n der Menschheit: Man nimmt sie in die Hände, blättert darin, hört auf zu blättern, verfolgt die Schrift und spürt, dass sich in einem etwas rührt, worauf man gehofft hat, was man sich aber vorher so nicht hätte vorstellen können. Man begegnet jemand anderem und, als größte Überraschu­ng, sich selber, da, wo man sich nicht erwartet hat.

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