Warum ich so peinlich bin
ICH
bin peinlich. Jetzt gar nicht wegen des offenen Hosentürls neulich im Restaurant. Das hätte man übrigens gar nicht bemerkt, wenn mir nicht auf der Toilette das Missgeschick passiert wäre, dass ausgerechnet an dieser sensiblen Stelle ein Zipfel meines Lieblingshemds herausgelugt hätte. Aber nicht davon ist hier die Rede, sondern von einem anderen Vorfall, auf den ich eigentlich stolz war und auch immer noch bin.
Es beginnt dort, wo sich oft die unheilvollsten Geschichten zusammenbrauen: am Frühstückstisch. Da steht nämlich ein liebevoll belegtes Jausenbrot für das Schulkind bereit. Und die rote Blechbox mit dem köstlichen Brot steht immer noch zum Einpacken bereit, als der junge Mann schon längst seinen Weg in die Schule angetreten hat.
Das arme Kind! Unerträglich ist der Gedanke an ein darbendes Geschöpf, das mit knurrendem Magen und zunehmender Verzweiflung in der großen Pause vergeblich nach etwas Essbarem in der Schultasche kramen wird. Die herunterrinnenden Tränen werden seinen Blick trüben und Tasche, Bücher und Hefte aufweichen, weil die Rabeneltern es nicht fertigbrachten, für eine gesunde Jause zu sorgen.
Aber jetzt sollten Sie mich sehen! Wie stets, wenn es darauf ankommt, erweise ich mich nämlich als Mann der Tat. Keine Zeit zum Umziehen? Ich werfe Bademantel und Winterjacke über den Pyjama, springe in die Schuhe und sprinte zur Busstation – und sehe gerade noch zwei schadenfrohe rote Rücklichter.
Also stürme ich weiter. Als der Bus rechts abbiegt, sehe ich das Kind mit traurigen Augen an der Tür stehen, ich rufe, gestikuliere, schwenke die Box. „Alles wird gut, ich kämpfe für dich, du musst nicht hungern!“, rufe ich in den Straßenlärm. Zwei waghalsige Straßenüberquerungen später ist mir eine Ampel gnädig, sie schaltet auf Rot und verlängert so den Aufenthalt des Busses an der nächsten Haltestelle. Mit wehender Zunge hechte ich durch die offene Bustür und überreiche die Jause dem Kind, das vor Dankbarkeit und Rührung kein Wort herausbringt.
Umso wortreicher ist der junge Mann dafür am Abend. „So peinlich warst du!“, beschwert er sich. So unaussprechlich muss mein Auftritt gewesen sein, dass es sich nur durch ein Augenrollen ausdrücken lässt, nicht aber durch Worte. Das ist nahe am jugendlichen SuperGAU: Da kommt ein unrasierter älterer Mann in zweifelhafter Kleidung und heftig keuchend angestürmt und drängt einem eine Dose ungewissen Inhalts auf. Mein Glück, dass er die bunte Pyjamahose gar nicht bemerkt hat. Und auch nicht, dass ich auf dem Rückweg zufrieden das Lied vom knallroten Autobus gepfiffen habe.