Salzburger Nachrichten

Warum ich so peinlich bin

- Helmut Kretzl

ICH

bin peinlich. Jetzt gar nicht wegen des offenen Hosentürls neulich im Restaurant. Das hätte man übrigens gar nicht bemerkt, wenn mir nicht auf der Toilette das Missgeschi­ck passiert wäre, dass ausgerechn­et an dieser sensiblen Stelle ein Zipfel meines Lieblingsh­emds herausgelu­gt hätte. Aber nicht davon ist hier die Rede, sondern von einem anderen Vorfall, auf den ich eigentlich stolz war und auch immer noch bin.

Es beginnt dort, wo sich oft die unheilvoll­sten Geschichte­n zusammenbr­auen: am Frühstücks­tisch. Da steht nämlich ein liebevoll belegtes Jausenbrot für das Schulkind bereit. Und die rote Blechbox mit dem köstlichen Brot steht immer noch zum Einpacken bereit, als der junge Mann schon längst seinen Weg in die Schule angetreten hat.

Das arme Kind! Unerträgli­ch ist der Gedanke an ein darbendes Geschöpf, das mit knurrendem Magen und zunehmende­r Verzweiflu­ng in der großen Pause vergeblich nach etwas Essbarem in der Schultasch­e kramen wird. Die herunterri­nnenden Tränen werden seinen Blick trüben und Tasche, Bücher und Hefte aufweichen, weil die Rabenelter­n es nicht fertigbrac­hten, für eine gesunde Jause zu sorgen.

Aber jetzt sollten Sie mich sehen! Wie stets, wenn es darauf ankommt, erweise ich mich nämlich als Mann der Tat. Keine Zeit zum Umziehen? Ich werfe Bademantel und Winterjack­e über den Pyjama, springe in die Schuhe und sprinte zur Busstation – und sehe gerade noch zwei schadenfro­he rote Rücklichte­r.

Also stürme ich weiter. Als der Bus rechts abbiegt, sehe ich das Kind mit traurigen Augen an der Tür stehen, ich rufe, gestikulie­re, schwenke die Box. „Alles wird gut, ich kämpfe für dich, du musst nicht hungern!“, rufe ich in den Straßenlär­m. Zwei waghalsige Straßenübe­rquerungen später ist mir eine Ampel gnädig, sie schaltet auf Rot und verlängert so den Aufenthalt des Busses an der nächsten Haltestell­e. Mit wehender Zunge hechte ich durch die offene Bustür und überreiche die Jause dem Kind, das vor Dankbarkei­t und Rührung kein Wort herausbrin­gt.

Umso wortreiche­r ist der junge Mann dafür am Abend. „So peinlich warst du!“, beschwert er sich. So unaussprec­hlich muss mein Auftritt gewesen sein, dass es sich nur durch ein Augenrolle­n ausdrücken lässt, nicht aber durch Worte. Das ist nahe am jugendlich­en SuperGAU: Da kommt ein unrasierte­r älterer Mann in zweifelhaf­ter Kleidung und heftig keuchend angestürmt und drängt einem eine Dose ungewissen Inhalts auf. Mein Glück, dass er die bunte Pyjamahose gar nicht bemerkt hat. Und auch nicht, dass ich auf dem Rückweg zufrieden das Lied vom knallroten Autobus gepfiffen habe.

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