Vom maurischen Märchen ins Jetzt
Von Marrakesch nach Agadir. Die eine Stadt ein Bazar aus „Tausendundeine Nacht“, die andere ein moderner Badeort am Atlantik.
Beim Stöbern im unendlich verzweigten Souk von Marrakesch ist nicht nur eine gute Orientierungsgabe hilfreich. Es dient auch dem Weiterleben, wenn man ständig ein Auge auf die Mofas hat, die sich lautstark und viel zu schnell ihren Weg durch die Menschenmenge bahnen. Das Bewusstsein dafür ist zwar schon vorhanden, dass es sich ohne diese Zweiräder in den engen Gassen unbeschwerter und umweltfreundlicher lebte; am Zeitschriftenstand unmittelbar neben dem Souk liegt sogar eine Zeitschrift „Ecosysteme Startups“auf. Aber der Weg bis zu einem Mofa-freien Stadtzentrum ist noch weit. Und dass die in die Jahrzehnte gekommenen Mercedes-Taxis alle durch beige Dacias ersetzt werden, hat eher einen geschäftlichen Grund. Wird doch Dacia im eigenen Land in Lizenz gebaut.
Das Schrille und Laute gehört im Zentrum von Marrakesch einfach dazu. Es ist genauso ein Teil dieses unverwechselbaren arabischen Flairs wie der Verkäufer, der inmitten von Dutzenden Kisten von Gewürzen seine Hand zu den Kunden ausstreckt, oder die in vielerlei metallischen Farben glänzenden Geräte des Kunsthandwerks, die sich in den kleinen Geschäften türmen.
Es sind die extremen Gegensätze, die nicht nur Marrakesch, sondern Marokko insgesamt so anziehend machen. Sobald der Besucher etwa in die Riads des Bahia-Palasts eintaucht, kehrt eine Ruhe ein, die an arabische Märchen erinnert, im Stile von „Tausendundeine Nacht“. Im Stuck, in kunstvollen Mosaiken und in den aufwendig geschnitzten Decken aus Zedernholz des Palasts wird der maurische Stil hochgehalten. Im begrünten Teil der Innenhöfe zieht der Gärtner kleine Wasserkanäle rund um jeden Baum und Strauch.
Denn ob in der Stadt oder auf dem Land: In Marokko muss der Mensch jedes grüne Pflänzchen der Trockenheit abringen. Einen halben Tag dauert die Fahrt von Marrakesch, von dessen roten Mauern bereits der Blick auf die Schneespitzen des Atlas fällt, bis in die Küstenstadt Agadir. Zunächst sind es die Plantagen, auf denen schnell wachsende Olivenbäume gezüchtet werden, die bereits nach zwei Jahren Früchte tragen. Je weiter man sich von Marrakesch entfernt, desto seltener werden diese grünen Oasen in der braunen Wüstenlandschaft. Dort und da laben sich
Schafe an dem kargen Grün. Und auch in den kleinen Bergdörfern sieht man, wie wertvoll das kühle Nass ist: Die Wassertürme sind meist höher als die Minarette. Schließlich verschiebt sich der Farbton der Landschaft mit dem sanften Anstieg der mautpflichtigen, beinahe leeren Autobahn hinauf zum Atlasgebirge immer mehr ins Rote. An die Stelle der üppig grünen Olivenplantagen treten die kargen, äußerst genügsamen Arganbäume, die ihre Wurzeln bis zu 30 Meter tief ins Erdreich graben und zur Not jahrelang ohne Wasser auskommen können. Die Ziegen der Halbnomaden geben ein skurriles Bild ab; sie haben gelernt, auf die Bäume zu klettern und ihnen trotz zahlreicher Dornen ihre Nahrung abzutrotzen.
Was den Japanern die Kirschblüte, ist den Marokkanern auf der Passhöhe der Autobahn über den Atlas die Blüte der Mandelbäume. Erhöhte Preise für Treibstoff gibt es auch auf der Autobahnstation auf 1500 Metern Höhe nicht, da hat der König die Hand drauf. Sollten bei der Abfahrt nach Süden bei einem der voll beladenen Lkw die Bremsen versagen, kann sich der Fahrer in eine der Auslaufzonen retten, in denen sich das Fahrzeug in einer Schotterbank festläuft. Am Ende der Abfahrt, kurz nach der Mautstelle, kassiert die Polizei.
In Agadir angekommen, verändert sich die Szenerie dramatisch. Von der Autobahn führt der Weg an fünfstöckigen Sozialwohnungen vorbei. Auf der gegenüberliegenden Seite hingegen reiht sich eine großzügige Villa mit ausgedehntem Garten an die andere – der Versuch des Königshauses, die soziale Balance irgendwie in der Waage zu halten. Doch zahlungskräftige Ausländer drängen ins Land. Schon im Zentrum von Marrakesch haben die internationalen Celebrities aus Film und Showbusiness mehr als die Hälfte der Riads aufgekauft. Und an der Küste nördlich von Agadir, wo einst die Hippiekommunen in Zelten und Wohnwagen hausten, schießt ein Apartmentviertel nach dem anderen aus dem Boden. Den Kampf gegen Zweitwohnungen, wie ihn das Land Salzburg derzeit versucht, kennt man in Agadir nicht. Hier ist der boomende Tourismus eine der zukunftsträchtigen Einnahmequellen. Die Fisch verarbeitenden Fabriken gehen vom Strand ins Landesinnere und machen Platz für attraktives Bauland.
Wer hier freilich seinen ganzen Urlaub nur am Strand genießt, versäumt etwas. Zum Beispiel den völlig entspannten Souk von Agadir, der weder laut noch eng ist, sondern einfach der Freiluftgroßmarkt für Einheimische und Gäste. Gar nicht zu reden von einem unbedingt empfehlenswerten Tagesausflug ins Atlasgebirge über zahllose Serpentinen zu den versteckten Berberdörfern, wo Frauen in handwerklichen Betrieben das kostbare und so begehrte Arganöl in mühseliger Arbeit aus den haselnussgroßen Früchte lösen. Es ist eine Zeitreise. In wenigen Autostunden durch Jahrhunderte, zu berührenden Gegensätzen.