Von der österreichischen Lust am Negativen
Dass man unterschiedliche Haltungen haben und dennoch miteinander regieren kann, ist für viele schwer vorstellbar.
Vor einem Monat und einem Tag hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen die neue Regierung aus ÖVP und Grünen angelobt. Seither hören wir in vielen Medien, an Stammtischen, in politischen Zirkeln und vor allem in sozialen Netzwerken, warum diese Koalition nicht funktionieren könne. Als Gründe für das vermeintlich Unmögliche werden angeführt: Die politischen Ideen der neuen Partner seien zu unterschiedlich (Stichwort: geringe Schnittmenge) und die Größenverhältnisse (ÖVP: 71 Mandate, Grüne 26) sprächen gegen eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Zudem seien die Türkisen zu wenig schwarz im Sinne von christlichsozial, dafür die Grünen viel zu weit links. Sebastian Kurz sei ein Konsi-Bobo, Werner Kogler ein Öko-Linker, zwei Welten, die nie und nimmer zueinanderfinden könnten.
So sehr sich die beiden in den vergangenen 32 Tagen auch darum bemüht haben, ihren Willen zur Zusammenarbeit zu betonen, so sehr haben sich die Ungläubigen beider Lager dahintergeklemmt, Belege für die Unversöhnlichkeit der Regierungsstandpunkte zu suchen: Präventivhaft, Kopftuchverbot, Hacklerregelung oder die Seenotrettung. Vor allem die Grünen müssen sich permanent vor ihren eigenen Anhängern für den Sündenfall entschuldigen, in eine Regierung mit Sebastian Kurz gegangen zu sein. Der vorläufige Gipfel: Die ehemalige Geschäftsführerin von Global 2000 und jetzige Infrastrukturministerin muss sich von ihren früheren Mitstreitern aus der Naturschützerszene anhören, sie kümmere sich zu sehr um den Klimawandel und zu wenig um den Artenschutz. Die Attacke aus den eigenen Reihen erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Tinte unter Leonore Gewesslers Bestellungsurkunde noch nicht richtig trocken ist.
Es gibt mehrere Erklärungen dafür, dass diese Regierung so stark dem Sperrfeuer politischer Beobachter und sozialer NetzwerkHeckenschützen ausgesetzt ist. Eine davon ist, dass in unserer satten Gesellschaft die Lust am Negativen höher eingestuft wird als die Freude über das Konstruktive. Das Haar in der Suppe ist vielen wichtiger als die Suppe selbst. Digitale Plattformen sind so aufgebaut, dass möglichst negative Themen möglichst viel Aufmerksamkeit bekommen. Schlechtes generiert neues Schlechtes.
Für Faserschmeichler eine harte Nuss
Dazu gesellt sich Ungeduld als wesentliches Element unserer Zeit. Die gute alte Regel, einer neuen politischen Führung 100 Tage Zeit zum Einarbeiten zu geben, ist sinnvoll. Nur hält sich heute niemand mehr daran.
Wer nach der zuletzt komatösen Großen Koalition und dem kurzen Spuk mit der FPÖ mit dem Einzug der Grünen in die Regierung eine magische Aufbruchstimmung erwartet hat, kennt Österreich nicht. In diesem Land wird dem Neuen zunächst skeptisch begegnet. Die Ungewöhnlichkeit der Paarung KurzKogler müssen viele erst verdauen.
Am meisten stört aufgeregte politische Beobachter die Tatsache, dass das Führungsduo in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung ist und das auch noch laut sagt. In der Vergangenheit wurde bei Differenzen entweder die Decke des Schweigens darüber ausgebreitet oder es kam gleich zum lautstarken Streit. So etwas wie jetzt hat es aber noch nicht gegeben: Türkis und Grün haben zu einem Thema unterschiedliche Ansätze, sprechen das offen aus, bleiben dabei sachlich, debattieren, aber streiten nicht.
Nach dem – wie wir heute wissen – aufgesetzten Schmusekurs zwischen ÖVP und FPÖ ist die offen, aber unaufgeregt zur Schau gestellte Differenz der Haltungen für politische Faserschmeichler eine harte Nuss.
Das Projekt Türkis-Grün ist auf Dauer angelegt. Weder der Kanzler noch der Vizekanzler haben ein Interesse an einem vorzeitigen Abbruch. Kurz könnte kein drittes Mal hintereinander erfolgreich eine vorzeitige Neuwahl argumentieren, Kogler wohl kein zweites Mal so fulminant abschneiden.
Dass die Grünen bisher in der neuen Regierung noch kaum in Erscheinung getreten sind und der ÖVP das Feld überlassen haben, ist kein Zeichen dafür, dass sie nichts können oder nichts zu sagen haben. Die Partei ist von null auf 100 gestartet, von der außerparlamentarischen Opposition auf die Regierungsbank katapultiert worden.
Dort oben ist die Luft dünn. Politische Schnappatmung hilft da nicht weiter.