Mandela nicht freigekommen wäre?
Der Freiheitskämpfer wurde vor 30 Jahren aus der Haft entlassen. Südafrika wäre ohne ihn womöglich in einem Bürgerkrieg versunken.
Tausende warten vor dem Gefängnis auf ihr Idol. Es ist Sonntagnachmittag, 11. Februar 1990, der Tag der Freilassung Nelson Mandelas. Nach 27 Jahren Haft verlässt der Freiheitskämpfer mit erhobener rechter Faust das Gefängnis nahe Kapstadt. Von dort geht es gleich weiter in die Metropole, wo schon Zehntausende auf den Anführer des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) warten. Es ist ein Schicksalstag für Südafrika. Alle fragen sich: Kann die friedliche Übergabe der Macht von den Weißen an die schwarze Bevölkerungsmehrheit gelingen? Mandela wird es in den folgenden Jahren als ANC-Führer und später als erster schwarzer Präsident Südafrikas schaffen, das Land in eine neue Ära zu führen. Zwar geht das nicht nur friedlich vonstatten, aber immerhin bleibt Südafrika ein Bürgerkrieg erspart.
Freilich hätte die Geschichte vor 30 Jahren auch ganz anders verlaufen können. Was, wenn Mandela nicht freigekommen wäre? Oder wenn ein Hardliner, einer der Betonköpfe, statt Mandela die Führung im ANC übernommen hätte?
Die Fronten verliefen nicht nur zwischen Weißen und Schwarzen, sondern auch innerhalb der schwarzen Community, wo sich verschiedene Kräfte gegenseitig bekämpften – das Regime hatte dazu beigetragen, die Gruppen gegeneinander auszuspielen. Weiße gegen Schwarze und Schwarze gegen Schwarze: Südafrika hätte 1990 durchaus in einen Bürgerkrieg schlittern können, wie so viele andere afrikanische Länder. Davon geht auch Stephan Bierling aus, Professor für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg. „Die Freilassung Mandelas war von zentraler Bedeutung für den Friedensprozess in Südafrika“, sagt Bierling, der den Lebensweg der „Ikone“Mandela in einer Biografie nachgezeichnet hat (Nelson Mandela: Rebell, Häftling, Präsident; Verlag C. H. Beck). In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre habe sich bereits gezeigt, dass sich die Hardliner allmählich durchgesetzt hätten – und zwar bei den Schwarzen wie bei den Weißen. Es gab Streiks, Boykotte, Sabotageakte, Anschläge und Massendemos. Die Regierung wiederum führte einen brutalen Kleinkrieg gegen schwarze Aufständische. Folter, Erpressung, politischer Mord waren an der Tagesordnung.
Die Extremisten auf beiden Seiten hätten das Land gewiss in den blutigen Konflikt hineingezogen, sagt Bierling. In weiten Kreisen populär war etwa Mandelas Ehefrau Winnie, die sogenannte „Mutter der Nation“, die allerdings im Gegensatz zu ihrem damaligen Ehemann einen radikalen, gewalttätigen Widerstand predigte und unter anderem dafür eintrat, Überläufer in brennende Autoreifen zu stecken und so zu Tode zu quälen. Wäre die Frau, die sich mit brutalen Leibwächtern umgab, an die Macht gekommen, hätte die Lage leicht eskalieren können. Nelson Mandela kommt das Verdienst zu, eine solche Eskalation gemeinsam mit dem weißen Reformpräsidenten Frederik Willem de Klerk verhindert zu haben. Unter den beiden gelang der friedliche Übergang der Herrschaft von den Weißen an die Schwarzen. Das System der Apartheid war Geschichte.
Selbst wenn Mandela im Februar 1990 nicht freigekommen wäre – das Regime hätte ihn dann eben ein halbes Jahr oder ein Jahr später freigelassen. Davon geht Kirsten Rüther aus, Professorin für Geschichte und Gesellschaft Afrikas an der Universität Wien. „Seit 1985 oder 1986 gab es vorbereitende Gespräche zwischen Repräsentanten aus Politik und Institutionen, die sich auf diesen Moment vorbereiteten. Die Öffentlichkeit freilich war darüber nicht informiert, sodass der Zeitpunkt der Freilassung und der Wiederzulassung des ANC als Überraschung kommen musste.“Wirtschaftlich und politisch sei das Regime damals schon so stark unter Druck gestanden, „dass es nicht länger hätte durchhalten können“, sagt Rüther. „Die Freilassung geschah ja nicht aus Großmut, sondern aus einer Situation der über Jahre gewachsenen internationalen Bedrängnis heraus.“Man dürfe bei alldem aber auch nicht vergessen, dass die Befreiung von vielen Organisationen und Medien getragen worden sei – nicht allein vom ANC und seiner „Galionsfigur“Mandela.
Die weltweite Anerkennung war Mandela und de Klerk jedenfalls sicher. 1993 wurden beide mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.