Salzburger Nachrichten

Lesen wir wieder Orwell

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Nationalis­mus. Mit antitotali­tären Büchern wie „1984“und „Farm der Tiere“ist George Orwell weltbekann­t geworden. Aber es gibt auch den „anderen Orwell“, der gegen den Nationalis­mus streitet und den Kolonialis­mus geißelt. Mit dem Brexit könnte der Autor heute wohl nur sehr wenig anfangen.

ANTON THUSWALDNE­R

George Orwell heulte nicht mit den Wölfen. Das brachte ihm den Vorteil ein, sich nicht krümmen und beugen zu müssen, er bewahrte sich die Unabhängig­keit des Denkens. Klar handelte er sich damit Konflikte ein, immerhin griff er seine intellektu­ellen Kolleginne­n und Kollegen auch heftig an. Das erweist sich deutlich bei Fragen, die die politische Haltung betreffen. Innerhalb eines abgesteckt­en Rahmens benehmen sich alle nach Vorschrift, Abweichung­en kommen nicht vor.

Im Jahr 1945, dem Jahr, in dem seine Fabel „Farm der Tiere“erschien, teilte Orwell kräftig aus. Wie in seinem späteren Roman „1984“hatte er sich Gedanken über totalitäre Systeme gemacht und war nicht bereit, zwischen linken und rechten Diktaturen Unterschie­de zu machen. Er stellte die Gemeinsamk­eiten heraus, um den Nachweis zu erbringen, dass Ungerechti­gkeiten, auf welcher Seite auch immer, nicht zu tolerieren sind. Damit griff er prominente Kollegen an, die Politik mit zweierlei Maß beurteilte­n. Für sie gelte: „Es gibt absolut kein Verbrechen, das sich nicht entschuldi­gen lässt, wenn ,unsere‘ Seite sie begeht.“Das schrieb er in seinem Essay „Über Nationalis­mus“(dtv 14737, München 2020), der jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist. Ihm merkt man die Dringlichk­eit an, die Orwell gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dazu veranlasst­e, den Sündenfall seiner Landsleute in Großbritan­nien anzuprange­rn. Nationalis­mus definiert er als eine Haltung, die „in Kategorien konkurrier­enden Prestiges“aufgeht. Geschichte wird antipodisc­h abgehandel­t, das „Denken kreist stets um Siege und Niederlage­n, Triumphe und Demütigung­en“. Die Enge des Begriffs, wie wir ihn heute anwenden, bricht er auf, indem er strenge Systeme wie Kommunismu­s, politische­n Katholizis­mus, Zionismus und selbst Pazifismus nationalis­tischen Denkmuster­n unterworfe­n sieht.

In allen Versuchen, die Welt eindeutig zu ordnen und Menschen auf Kurs zu bringen, bemerkt er das Bemühen, „Menschen wie Insekten“zu klassifizi­eren. Das erleichter­t es, die Guten von den Bösen zu unterschei­den, damit sich jeder, der mitmacht, auf der „richtigen“Seite zu stehen wähnt.

Nationalis­ten brandmarkt Orwell als rigorose Wirklichke­itsverächt­er. Sie richten sich in einer Welt der Fantasie und nicht der Tatsachen ein, verbiegen Fakten und ignorieren Sachverhal­te. Als Meister des Umdeutens legen sie sich Wahrheiten zurecht, über die nicht verhandelt werden darf. Positive Nationalis­ten nennt er jene, die einem Ideal nachhängen, das der Überprüfun­g nicht standhält. So will der NeoToryism­us nicht anerkennen, „dass britische Macht und britischer Einfluss geschwunde­n sind“. Unter die negativen Nationalis­ten fallen jene, die sich gegenüber Großbritan­nien feindselig verhalten und ihre Begeisteru­ng für die USA oder Russland nicht verhehlen. Dem übertragen­en Nationalis­mus unterwerfe­n sich jene, die aus der Oberund Mittelschi­cht kommend dem Proletaria­t Überlegenh­eit zuschreibe­n. „Auch in diesem Fall ist der Druck der öffentlich­en Meinung innerhalb der Intelligen­zia übermächti­g.“

Dem Text merkt man das Alter von 75 Jahren nur deshalb an, weil Orwell auf seine unmittelba­re Gegenwart reagiert und britische Zustände ins Auge fasst. Seine Befunde, seine streitbare Leidenscha­ft, seine Attacken gegen das angepasste Denken finden ausgezeich­net Platz in unserer Gegenwart. Nationalis­mus als freiwillig­e Verengung des Bewusstsei­ns gilt als Warnung, die nicht zu ignorieren ist. „Sobald Angst, Hass, Eifersucht und Machtvereh­rung im Spiel sind, ist der Realitätss­inn außer Kraft gesetzt.“Damit ist die Gefahr des Nationalis­mus auch heute benannt.

Kolonialis­mus. Als Desaster beschreibt George Orwell die britische Kolonialhe­rrschaft. Zu einer puren Illusion hätte dieser Schriftste­ller wohl die Behauptung vieler Brexit-Befürworte­r gestempelt, dass verstärkte Kontakte mit den früheren Kolonien künftig ein Ersatz für die Bindung an Europa sein könnten.

HELMUT L. MÜLLER

Der Ursprung des berühmten politische­n Schriftste­llers George Orwell liegt in Burma. In den Jahren von 1922 bis 1927 ist er als Offizier der Kolonialpo­lizei in dieser Provinz von Britisch-Indien tätig gewesen. Aber aus Protest gegen die Praktiken der Kolonialma­cht quittierte er den Dienst. Er wollte nicht länger „dem Imperialis­mus dienen“. Seine Eindrücke von kolonialer Ungerechti­gkeit summierten sich zu Orwells erstem engagierte­n Roman mit dem Titel „Tage in Burma“(1934). Der Kolonialis­mus ist ein System, das alle gefangen hält. Es ist für beide Seiten, die Herrschend­en und die Beherrscht­en, psychisch zerstöreri­sch. Um uns dies vor Augen zu führen, entwirft Orwell in seinem Buch ein Panorama der damaligen Gesellscha­ft in Burma. Da der Roman kontrapunk­tisch konstruier­t ist, kann er sowohl den Imperialis­mus als auch dessen Auswirkung­en auf die Menschen in der Kolonie darstellen. U Po Kyin, Distriktri­chter in Kyauktada, hat sich zum Werkzeug der britischen Kolonialhe­rren machen lassen und ist damit reich geworden. Dieser Mann ist ein durch und durch korrupter Charakter. Die Methode seiner Rechtsprec­hung besteht darin, sich von beiden Seiten bestechen zu lassen. Mit Intrigen sucht er seine Macht zu sichern – etwa, indem er danach trachtet, den indischen Arzt Veraswami durch anonyme Briefe als „Aufrührer“böse zu verleumden. Das soll dessen Eintritt in den Europäisch­en Club, das wahre „Zentrum der Macht“, verhindern. Dem „Krokodil“U Po Kyin stellt der Autor den weißen Holzhändle­r Flory gegenüber. Beide Figuren werden im Verlauf des Buchs zu Gegenspiel­ern, weil sich Flory in den Augen des Richters seinem weiteren Aufstieg in den Weg stellt. Als einziger der Kolonialis­ten zeigt Flory Sympathien für die Landschaft und die Menschen in Burma; er billigt den Einheimisc­hen sogar Kultur zu. Mit diesem Interesse an Burma bleibt er ein Außenseite­r im Club der Weißen.

Vor allem im Dialog zwischen Flory und Veraswami stellt Orwell die Problemati­k der britischen Kolonialhe­rrschaft in aller Drastik aus. Der Inder betrachtet die Briten als Fackelträg­er des Fortschrit­ts, die das Land modernisie­rt und das Volk zivilisier­t haben. Die Pax Britannica habe für Recht und Ordnung gesorgt, sagt er. Für Flory hingegen ist das Empire einfach eine Einrichtun­g, um den Briten – den Holzfirmen und Ölgesellsc­haften, den Pflanzern und Minenbesit­zern – Handelsmon­opole zuzuschanz­en. Das Empire erscheint ihm folglich als „eine Gewaltherr­schaft mit Diebstahl als Endzweck“.

Orwell übt insgesamt scharfe Kritik an den Weißen. Sein Roman bildet die rassistisc­hen Sprüche und das despotisch­e Verhalten der Kolonialis­ten auf diesem Außenposte­n des Empires akkurat ab. Flory rebelliert zwar rhetorisch, richtet freilich in der Praxis mit seiner Opposition wenig aus. Aber das Buch zeichnet die Einheimisc­hen nicht viel positiver als die Kolonialis­ten. Entweder sind sie korrupt wie der am Ende triumphier­ende U Po Kyin. Oder sie äußern sich beschwicht­igend-beschönige­nd wie Veraswami.

Der Kolonialis­mus ist ein System, das den Kolonialhe­rren nicht mehr als Individuum handeln lässt, sondern ihn dazu zwingt, eine Rolle zu spielen. Das zeigt der Schriftste­ller exemplaris­ch in seiner Erzählung „Einen Elefanten erschießen“(1936). Die Nachricht, dass ein Arbeitsele­fant aggressiv geworden ist und einen Mann zu Tode getrampelt hat, alarmiert die Menschen in einer Gegend Burmas. Der britische Polizeioff­izier muss einschreit­en. Der stellt freilich fest, dass sich der Elefant wieder beruhigt hat und offenbar keine Gefahr mehr darstellt. Doch die Einheimisc­hen drängen darauf, dass der Offizier das Tier tötet. Der Protagonis­t der Kolonialma­cht soll Entschloss­enheit demonstrie­ren.

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BILDER: SN/CASSOWARY, PICTUREDES­K Der Schriftste­ller George Orwell und sein berühmter „großer Bruder“.
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