Mit Netflix strömt ein Wandel ins Kino
Bei den Oscars zeichnet sich ein medialer Umbruch ab: Aber ist überall, wo Streaming draufsteht, auch eine Revolution drin?
SALZBURG. Manches Hollywoodstudio schaute im Vorjahr neidisch auf die Schlagzeilen nach der Oscarnacht. Von einer Revolution wurde weltweit berichtet. Diese Revolution spielte sich aber nicht auf der Kinoleinwand ab. Mit zehn Nominierungen und drei Auszeichnungen war „Roma“2019 der große Oscargewinner: Ein Film, den kein traditioneller Filmkonzern ins Rennen geschickt hatte, sondern der Streamingdienst Netflix.
Und 2020? Schon vor der Oscarverleihung in der Nacht auf Montag wurde Netflix heuer ein historischer Sieg zugesprochen: Mit 24 Nominierungen für „The Irishman“, „Marriage Story“, „Die zwei Päpste“und mehrere weitere Produktionen hat erstmals in der Oscargeschichte ein Streamingdienst alle anderen Studios überflügelt. Hinter Netflix blieben sogar Disney mit 23 und Sony mit 20 Nominierungen zurück. Die Revolution ging also heuer bereits vor der tatsächlichen Verteilung der Goldstatuen (die Gewinner finden Sie online unter www.sn.at) weiter.
Dass sich Medien wandeln und mit jeder neuen Technologie auch neue Akteure in einer Branche mitspielen wollen, ist freilich nichts revolutionär Neues. Das Phänomen hat Tradition. Auch aktuelle oder einstige Kinoriesen wie Sony, Vivendi oder Seagram kamen irgendwann als branchenfremde Konzerne ins Unterhaltungsgeschäft, weil sie sich neue Felder erobern wollten oder in einer neuen Technologie zukunftsträchtige Chancen sahen.
Bei Netflix war es der rasante Wandel der digitalen Technologie, der aus dem ehemaligen DVD-Postversand und Onlinevideoverleiher den Marktführer für Filmstreaming machte. Welche Folgen aber könnte sein Auftauchen auf längere Sicht für das Kino haben?
Einerseits sei es bei jedem medialen Wandel „eine Bereicherung, wenn neue Akteure ins Spiel kommen, die auch neue Konzepte haben und sehr schnell und flexibel auf die Bedürfnisse eines neuen, jüngeren Publikums reagieren können“, sagt die Kommunikationswissenschafterin Gerit Götzenbrucker von der Universität Wien.
Zugleich bringe die neue Konkurrenz das Kino freilich von mehreren Seiten in Bedrängnis. Wenn Filme und Serien zunehmend auf dem Tablet oder dem Smartphone konsumiert würden statt im Kino, „werden ja auch Routinen, Rituale und Gewissheiten einer Branche ausgehebelt“. Nicht nur die Frage nach den Arbeitsbedingungen für Schauspieler in einem neuen Streamingumfeld, wo schnell und günstig produziert werden müsse, könne sich dabei neu stellen. Wie könnte sich etwa auf längere Sicht die Rolle des Kinos als Kunstform verändern, wenn neue, stark kommerziell getriebene Akteure einen neuen Mainstream definieren? „Hier könnte sich etwa die Frage stellen, wie viel Aufregendes oder Ungewöhnliches auf Dauer in Streamingproduktionen möglich ist, die vor allem nach ökonomischen Gesichtspunkten funktionieren sollen“, sagt Götzenbrucker und verweist auf Beispiele aus der Welt der sozialen Medien. Hier haben große Plattformen wiederholt Schlagzeilen gemacht, weil sie sogar Bilder berühmter Kunstwerke zensierten, die nicht den moralischen Regeln ihrer Algorithmen entsprachen. Wie sich die hart erstrittene Kunstfreiheit im Kino unter neuen Produktionsbedingungen behaupte, könne also ebenfalls eine spannende Debatte werden.
Wie verändern sich generell die erzählerischen Inhalte, wenn sich die technologischen Formate wandeln? Nicht zuletzt bei Serien, dem Kerngeschäft von Netflix und Co., sei dieser Aspekt wesentlich, erläutert die Forscherin. Weil das Geschäft von Streamingdiensten vor allem auch darin bestehe, Abonnenten dauerhaft bei der Stange zu halten, müssten Serien so erzählt sein, dass sie einen starken Sog erzeugten und zum Dauerkonsum anregten, „von dem vor allem Jugendliche sich schwer lösen können“– zumal die Serien oft auf mobilen Endgeräten gestreamt würden, auf dem Weg zur Arbeit ebenso wie im Urlaub. „Die Nutzung verzahnt sich da immer mehr mit dem Alltag.“
Im Zusammenspiel mit den Daten, aus denen Streamingdienste die Vorlieben ihrer Nutzer analysieren können, und mit Vorschlagsystemen, die gleich die nächste Empfehlung parat haben, sei eine weitere Veränderung zu beobachten: „Der Nutzer kommt immer mehr von der Rolle des Kunstgenießers in die des Konsumenten, von dem der Algorithmus genau weiß, was er will.“Für das Kino sieht die Wissenschafterin dennoch keine düstere Zukunft: Obwohl das Angebot an immer und überall verfügbaren Filmen auf Abruf ständig wachse, sei auch das Bedürfnis, mit anderen Menschen in einem Saal zu sitzen, einen Film zu sehen und danach darüber zu sprechen, langlebig: „Das Kino wird nicht sterben.“
„Das Kino wird durch den Medienwandel aber nicht sterben.“Gerit Götzenbrucker, Forscherin