Unsere Welt ist für Männer gemacht
Ob Bewerbungskriterien, Crashtest-Dummys oder WCs: Männer werden in vielen Bereichen als Norm gesetzt. Die dadurch entstehende geschlechtsspezifische Datenlücke kostet viele Frauen Chancen. Und manche sogar das Leben.
Ob Crashtest-Dummys oder WCs: Männer werden in vielen Bereichen als Norm gesetzt. Welche Auswirkungen dies für Frauen hat.
WIEN. Stechen in der Brust, Atemnot, Engegefühl: Die klassischen Symptome eines Herzinfarkts kennen viele. Dass diese bei Frauen oft anders auftreten, wissen viele nicht. Selbst Ärzte deuten die Alarmzeichen falsch. Britische Forschungen zeigten, dass bei Frauen die Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen deshalb um 50 Prozent erhöht ist. Diese Studie war für die Britin Caroline Criado-Perez ein Aha-Moment. Und der Anlass, sich eingehend mit dem Thema zu beschäftigen. „Männer sind in vielen Fällen die Mustervorlage. Dass das sogar in der Medizin passiert, hat mich schockiert. Da sterben Frauen“, sagt Criado-Perez. Die Britin fing an zu recherchieren und wurde schnell in anderen Bereichen fündig. Bei der Erhebung von Daten werden Frauen oft unzureichend berücksichtigt, stellte sie fest: „Es gibt eine riesige geschlechtsspezifische Datenlücke. Vermeintlich objektive Daten sind männlich geprägt.“
Mit ihrem Buch über den „Gender Data Gap“hat sie im Vorjahr in Großbritannien für Furore gesorgt und zahlreiche Preise abgeräumt. Die „Financial Times“etwa wählte es zum Wirtschaftsbuch des Jahres. Nun ist es auf Deutsch erschienen. „Unsichtbare Frauen“zeigt zahllose Beispiele der Daten-Diskriminierung und ihre Auswirkungen. Das fängt bei Banalitäten an: Dass Frauen im Büro frieren, weil die Standardeinstellungen von Klimaanlagen an den Bedürfnissen von Männern ausgerichtet sind. Dass sie Regale nicht erreichen oder sich regelmäßig in Schlangen vor dem Damenklo einreihen müssen. Auf den ersten Blick mag es fair sein, dass für Männer und Frauen bei Toilettenanlagen die gleiche Fläche zur Verfügung steht. Allerdings brauchen Urinale weit weniger Platz. Hinzu kommt, dass Frauen öfter von Kindern begleitet werden oder der Toilettengang während der Periode ganz einfach länger dauert.
Viele Dinge sind ärgerlich, andere sogar lebensbedrohlich, wie sich beim Thema Herzinfarkt zeigt. Oder auch bei Autounfällen: So werden die meisten CrashtestDummys der Anatomie von Männern nachempfunden – und Autos dementsprechend gebaut. Das führe schlussendlich dazu, dass Frauen bei einem Unfall mit 47 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als ein Mann schwer verletzt und mit 71 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit mittelschwer verletzt werden, sagt Criado-Perez. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau stirbt, sei gleich um 17 Prozent höher.
In vielen Bereichen werden Prototypen anhand von männlichen Körpern gebaut. Der US-Konzern Apple brachte 2018 ein iPhone-Modell auf den Markt, das viel zu groß für Frauenhände ist, wie Käuferinnen kritisierten. Dass im neuen USHauptquartier des Konzerns zwar ein Spa eingebaut, aber kein Kindergarten eingeplant wurde, mag da nicht mehr verwundern.
Auch in der Arbeitswelt gilt der Mann oft als Standard, seien es Einstellungskriterien, Spesenregelungen oder Sicherheitskleidung. Die zum Großteil von Frauen verrichtete unbezahlte Arbeit wird bei Statistiken zu Arbeitszeiten nicht berücksichtigt und teils gar nicht erst erhoben. Schätzungen zufolge macht unbezahlte Care-Arbeit in Ländern mit hohen Einkommen bis zu 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, in Ländern mit niedrigen Einkommen sogar bis zu 80 Prozent, sagt die Autorin. Verlassen muss man sich aber oft auf Schätzungen, weil Erhebungen schlichtweg nicht existieren. Auch Österreich ist da ein gutes Beispiel. Die letzte Zeitverwendungsstudie fand vor zehn Jahren statt. Wie viel Gratisarbeit Österreicherinnen verrichten und wer sich wie stark um Haushalt und Kinder kümmert, wissen wir deshalb gar nicht so genau. Nun soll es wieder eine Erhebung geben, steht im neuen Regierungsprogramm.
Criado-Perez will mit ihrem Buch mehr Menschen dazu bringen, die Art und Weise der Datenerhebung infrage zu stellen. „Es ist unglaublich wichtig, die Menschen daran zu erinnern, dass es Frauen gibt.“Vieles passiere gar nicht absichtlich. Das Problem sei einfach das fehlende Bewusstsein. „Man nimmt die Welt, wie sie präsentiert wird. Wir hinterfragen das nicht.“Das will die Feministin ändern, nicht nur mit ihrem Buch. Sie schaffte es mittels einer Kampagne auch, dass auf dem Parlamentsplatz in London inmitten vieler männlicher Statuen endlich auch eine weibliche steht. 2018 wurde das Denkmal, das die britische Frauenrechtlerin Millicent Fawcett zeigt, enthüllt. Criado-Perez und ihren Mitstreiterinnen ist es auch zu verdanken, dass seit 2017 die Schriftstellerin Jane Austen statt des Wissenschafters Charles Darwin die Zehn-Pfund-Note ziert.
Sichtbarkeit ist wichtig, auch in der Sprache. Deshalb sagt die Autorin auch „Männerfußball“. „Manche finden das seltsam. Aber warum gehen wir automatisch davon aus, dass nur Männer auf dem Spielfeld stehen, wenn wir von Fußball sprechen? Wir müssen Männer daran hindern, den neutralen Raum zu besetzen“, ist sie überzeugt.
Denn das bestehende Problem könnte sich durch neue Entwicklungen noch weiter verschärfen: künstliche Intelligenz, die auf bestehenden Daten aufbaut. Erschreckende Beispiele von den Auswirkungen sexistischer Software gibt es bereits. So sollte eine künstliche Intelligenz bei Amazon in der Flut an Lebensläufen die besten Bewerber finden. Der Bewerbungsroboter sortierte Frauen dabei allerdings systematisch aus. Denn der Algorithmus lernte aus bestehenden Daten. Da Amazon bisher mehr Männer eingestellt hatte, ging die Software davon aus, dass diese besser geeignet wären. Der Testlauf wurde gestoppt. „Wir trainieren Algorithmen anhand von historischen Daten, die viele Verzerrungen enthalten. Das ist meine große Angst: dass dadurch die Diskriminierungen noch größer werden“, sagt CriadoPerez. „Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ist im btb-Verlag erschienen.
„Daran erinnern, dass es Frauen gibt.“
Caroline CriadoPerez, Autorin