Flucht aus der Kriegshölle
Ein schwerer Wintereinbruch hat die humanitäre Katastrophe im Nordwesten Syriens drastisch verschärft. Die Großoffensive der Assad-Armee geht währenddessen weiter.
DAMASKUS. „Es ist entsetzlich kalt. Es hat nun auch noch angefangen zu schneien. Und der Bombenhagel geht täglich weiter“, sagt Bilal Abdul Kareem in einem YouTube-Video aus der syrischen Provinz Idlib. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hat sich der US-Journalist nach draußen begeben, wo ihm der kalte Wind die dicht fallenden Schneeflocken ins Gesicht treibt. In der Nacht zum Mittwoch seien die Temperaturen auf sechs Grad unter null gefallen, fährt Bilal fort. Nirgendwo sei Brennholz oder Petroleum zu bekommen.
„Die Welt“, ruft er „hat diese Menschen aufgegeben.“
Von dem schweren Wintereinbruch besonders stark betroffen sind rund 900.000 Menschen, die in den vergangenen Wochen und Monaten vor den Streitkräften des syrischen Regimes in Lager an der Grenze zur Türkei geflohen sind. verzweifelt, hier längst
Viele von ihnen haben nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Vier Babys und Kleinkinder seien bereits erfroren, berichtet die syrische Opposition, deren Angaben derzeit nicht zu überprüfen sind.
Dass sich diese Katastrophe für die Menschen zuletzt drastisch verschärft hat, zeigen jedoch in den sozialen Medien veröffentlichte Videos, in denen weinende Kleinkinder barfuß im Schneegestöber herumirren und verzweifelte Väter vergeblich versuchen, aus Plastikabfall ein kleines Feuer zu entfachen.
„So wie heute haben die Menschen hier in den vergangenen neun Jahren noch nie gefroren“, versichert der Sprecher einer kuwaitischen Hilfsorganisation einer Reporterin aus Abu Dhabi. Bereits seit Tagen reichten die zur Verfügung stehenden Hilfsgüter nicht mehr aus, um die entsetzliche Not der Flüchtlinge zu lindern. Trotzdem habe sich bisher niemand der Armee von Machthaber Baschar alAssad in den Weg gestellt. Den vollmundigen Interventionsversprechen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan seien bisher keine spürbaren Taten gefolgt, kritisiert Abelhamid, der am Dienstag aus einem Dorf im Süden von Aleppo vertrieben worden ist. Die gewaltigen Geländegewinne in den vergangenen zwei Wochen, erklärt er, habe die Assad-Armee vor allem schiitischen Milizen aus dem Irak und dem Libanon zu verdanken. Auch iranische Revolutionsgardisten hätten sich nach Monaten der Zurückhaltung an der Großoffensive beteiligt.
Die von ihren schiitischen und russischen Bündnispartnern unterstützten syrischen Regierungstruppen hatten am Dienstag auch den letzten Abschnitt der strategisch bedeutenden Autobahn M5 unter ihre Kontrolle gebracht. Zum ersten Mal seit bald acht Jahren kontrolliert der syrische Diktator Assad damit wieder die direkte Straßenverbindung zwischen der Hauptstadt Damaskus und dem Wirtschaftszentrum Aleppo.
Für eine Intervention der türkischen Armee, befürchten westliche Beobachter in Beirut, könnte es jetzt zu spät sein. Ein Eingreifen der Türken sei nur dann zu erwarten, wenn die syrischen Truppen nach ihren jüngsten Erfolgen versuchen sollten, auch die Provinzhauptstadt Idlib einzunehmen. Dort leben fast zwei Millionen Syrer. Würden auch sie nach Norden fliehen, wäre die Türkei wohl nicht mehr in der Lage, die Flüchtlinge an der Grenze zurückzuhalten.
Der türkische Staatspräsident Erdoğan hatte am Dienstag der Assad-Armee noch einmal mit massiven Vergeltungsangriffen gedroht, falls, wie zu Wochenbeginn, erneut türkische Soldaten in Syrien getötet werden sollten.