Mit Gesang und Tanz erobern Frauen Freiheit
Die Sehnsucht nach Kunst und Freiheit hat Orte erzeugt, die jetzt neu zu entdecken sind.
WIEN. Welch neuartige Frau! Mit exquisitem Kurzhaarschnitt, aufreizendem Lippenrot, prallem Selbstbewusstsein und berufstätig singend – so waren Frauen in jener Zeit geworden, die eine neue Ausstellung im Unteren Belvedere ab Freitag in Erinnerung ruft. Die Berliner Designerin Erna Schmidt-Caroll hat 1928 so eine Frau in drastischer Präsenz gezeichnet, dabei aber in zarter Pastellkreide. Moderne, modische Frauen wie die „Chansonette“widersprachen der Rolle der folgsamen Gattin. In Lokalen wie „Weiber-Kabaretts“oder als Tänzerinnen und Schauspielerinnen brachen sie sexuelle und soziale Tabus.
Dieses Aufbäumen gegen eine rigide Gesellschaft sowie das Auskosten der durch die neue Staatsform der Republik zu gewinnenden Freiheit gelang vor allem an damals neuartigen Orten – in Varietés, Kabaretts, Nachtcafés, Bars und Clubs. Freilich denkt man beim Erinnern an die Anfänge solcher Zügellosigkeit an die „Goldenen Zwanziger“in Berlin oder ans Paris der 1890er mit „Moulin Rouge“und „Le Chat Noir“.
Die Ausstellung „Into the Night“, die sich bis in die Orangerie erstreckt, beleuchtet diese Lokalitäten als „Dreh- und Angelpunkte der Avantgarde“sowie als „Plattform des kreativen Ideentauschs“, wie es in der Pressemitteilung heißt. Neben der Konzentration auf die
Kunst dieser Umwälzungen, wobei Zeichnung und Grafik mit Architektur, Mode oder Tanz zu Gesamtheiten verschmolzen, wird das Phänomen der „Avantgarde im Nachtcafé“weltumspannend dargestellt: aus den 1920er-Jahren die Künstlergruppe Los Estridentistas in Mexiko-Stadt und die New Yorker Jazzclubs in Harlem sowie der 1961 in Ibadan in Nigeria gegründete Mbari Artists and Writers Club und der 1966 eingerichtete Privatclub Rasht 29 in Teheran.
Dieser Weitblick in Ausstellung wie Katalogbeiträgen konnte dank der Zusammenarbeit mit dem Barbican in London – von dort ist auch die Kuratorin Florence Ostende – aufgefächert werden.
Der spektakulärste Beitrag aus Österreich ist der Nachbau des Wiener Cabaret Fledermaus, das derart legendär war, dass es Gerhard Bronner 1967 an anderem Ort wiederbegründen sollte. Die ursprüngliche, von 1907 bis 1913 bespielte Kleinkunstbühne im Keller an der Ecke Kärntnerstraße/Johannesgasse war Paradebeispiel der Wiener Werkstätten – von gleichem Rang wie das Brüsseler Palais Stoclet und das Sanatorium
Purkersdorf, wie der Kunsthistoriker Alexander Klee im Katalog erläutert. Das einst von Bertold Löffler und Michael Powolny gestaltete Keramikmosaik aus über 7000 farbigen Fliesen unterschiedlicher Größen wurde mithilfe der Expertise aus dem Archiv der Universität für angewandte Kunst in Wien nachgebildet.
Glatt, sauber und makellos ist diese Bar des Cabaret Fledermaus wiederhergestellt. Es ist eine, wie die Direktorinnen Jane Alison und Stella Rollig im Katalog schreiben, der „mit größter Sorgfalt angefertigten Innenraumnachbildungen“.
Während die Klarheit dieses Keramikmosaiks so besticht wie jene des Saals von Theo van Doesburg für die Aubette in Straßburg, wirken andere Exponate steril. Was mit einer dem Prinz Eugen’schen Barockschloss angemessenen Eleganz präsentiert wird, erzählt von der wilden Absurdität der Dadaisten im Züricher Cabaret Voltaire, von aufgeheizter Stimmung im Moskauer Café Pittoresque vor der Oktoberrevolution, von futuristischem Tanz im Cabaret del Diavolo (Kabarett des Teufels) in Rom wie von subversiven Schwulenbars und Lesbenclubs der Weimarer Republik.
Ein Schwarz-Weiß-Foto aus 1916 zeigt eine Tänzerin in Pose: Sie lüpft mit der rechten Hand den Tüll ihres Rocks und hält die linke Hand so geziert wie die Erna Schmidt-Carolls „Chansonette“. Es ist die deutsche Schauspielerin und Tänzerin Valeska Gert. „Weil ich den Bürger nicht liebte, tanzte ich die von ihm Verachteten, Dirnen, Kupplerinnen, Ausgeglitschte und Verkommene“, wird Valeska Gert im Katalog zitiert. „Ich bin eine sensitive Hure, bewege mich sanft und wollüstig“, erzählt sie von ihre Tanznummer. „In jähem Krampf, wie von einer Tarantel gestochen, zucke ich in die Höhe. (...) Was hat man mir getan? Man hat meinen Körper ausgenutzt, weil ich Geld haben muss. Miserable Welt! Ich spucke einen verächtlichen Schritt nach rechts und einen nach links, dann latsche ich ab.“Die Ausstellung erzählt anhand von zwei Bildern von Otto Dix auch von der noch exaltierteren Anita Berber, die als erste Frau einen Smoking trug und „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“mit ihrem Partner Sebastian Droste aufführte.
Doch wie die politische Freiheit – in Moskau früher als in Rom und Berlin – in Diktaturen noch brutaler als zuvor gedrosselt werden sollte, so zeigten sich im Tanz der Frauen auch andere Formen als der mutige Ausdruckstanz von Valeska Gert und Anita Berber. Zeitgleich begannen „Tiller Girls“und „Revuemädchen“in streng synchronisierter Bewegung aufzutreten – wie gleichgeschaltete Menschen oder, so die Spitznamen, „Bewegungsmaschinen“oder gar „Girlmaschinen“.
Ausstellung: „Into the Night – Die Avantgarde im Nachtcafé“, Unteres Belvedere, Wien, bis 1. Juni.
„Diese Schauplätze waren Nährboden kulturellen Denkens.“Stella Rollig, Belvedere-Direktorin