Auf der Suche nach besonderen Momenten
André Hellers episodische Erzählungen aus dreieinhalb Jahrzehnten sind jetzt in einem Band versammelt.
Auch wenn André Heller nicht „Ich“sagt, geht es um seine eigenen Angelegenheiten. Was ihm nahegeht und was ihn beschäftigt, lagert er dann kurzerhand aus. Das ist ja die Chance der Literatur, dass sie Figuren mit Eigenleben ausstattet, ihnen aber trotzdem die Gedanken und Gefühle des Verfassers mitgibt. Der tut sich leichter, das ihm Wesentliche auszubreiten, wenn er sich ein Schutzschild einer anderen Identität anschafft, aus der heraus leichter sagbar ist, was schmerzt.
Nicht, dass die kurzen Erzählungen, entstanden zwischen 1969 und 2003 und in einem ab Samstag erhältlichen Band gesammelt vorliegend, viele Gemeinsamkeiten aufweisen, aber sie führen alle ins Zentrum je einer Person, die sich als unruhiger Geist in ständiger Aufbruchstimmung befindet. Sie spielen in Wien, Marokko, am Gardasee oder den USA. Die Haltung der Figuren ist jeweils eine, die zu André Heller auch passt.
Die Geschichten neigen zum Episodischen, greifen einen Moment aus dem Leben eines Menschen heraus, in dem ihn ein Blitz der Erleuchtung trifft oder in dem das Drama eines Lebens in einem Punkt der geschärften Wahrnehmung kulminiert. Dass es sich dabei um besondere Persönlichkeiten handelt, steht fest. Nicht dass sie am großen Erfolg teilhaben müssen, ist von Belang. Es gibt solche, die sich eigentlich als gescheitert empfinden müssen, weil ihr Leben einen Knick bekommen hat. Auf der Fifth Avenue fällt dem Erzähler ein unbeholfener Mann auf, über und über mit Plastiksäcken beladen. Die beiden kommen ins Gespräch, der seltsame Mann überlebte das Lager der Nazis, weil er als Clown für Himmler vorgesehen war.
André Heller aktiviert eine eigene Art von Wachsamkeit. Deshalb reagiert er auf Gestalten, die außer Tritt geraten sind, für die die Uhren anders gehen, die sich herausgenommen haben aus dem Alltagslauf der Durchschnittsmenschen. Deshalb sind sie noch lange keine Lichtgestalten. Gut möglich, dass ihnen eine tragische Vergangenheit nachhängt, dass sie Schicksalsschläge erlitten haben, mit einem Trotz zum Anleben gegen Widrigkeiten stellen sie sich dennoch den Zumutungen ihres Lebens.
Die Erzählungen kommen rasch auf den Punkt. Es bedarf keiner langen Anlaufzeit, sie leben von der Kunst der Verknappung. Das entspricht dem Programm dieser auf einen Kern zusammengezogenen Geschichten, wie es in einem Satz nebenbei formuliert ist: „Es war einer jener seltenen Augenblicke, in denen man alles für möglich hält und selbst die Nachricht von der Abschaffung des Todes einen nicht wirklich erstaunen könnte.“Auf diese seltenen, vielleicht überhaupt einzigartigen Augenblicke kommt es an. Um sie zu erkennen, ist jemand mit intensiver Aufmerksamkeit gefragt, sonst verpufft das Angebot, einem eine andere, eine entbanalisierte Wirklichkeit zu eröffnen.
Nicht dass Religion eine auffallende Rolle bekommen würde bei André Heller, aber von der Macht eines „spirituellen Selbst“will er doch nicht lassen. Deshalb müssen wir uns seine Helden oft als Gezeichnete vorstellen. Besonderer Erfahrungen wird keiner ungestraft teilhaftig, sie kosten den Preis des Leids.
Wenn André Heller auf eigene Erinnerungen zurückgreift, drängt sich ihm bald einmal sein Vater auf. Er begegnet ihm, dem Patriarchen, mit einer Mischung aus Ablehnung und Bewunderung, Liebe sieht anders aus.
In seiner Literatur sucht er Menschen, die zu sich und ihren Überzeugungen stehen. Es müssen keine klassisch „guten Menschen“sein. „Manchmal denke ich jetzt, dass ein einziger, unverlogen freundlicher Mensch mehr wert ist als alle Kunstwerke von der Höhlenmalerei bis heute.“Das ist leicht hingesagt, weil schwer zu erproben. André Hellers Erzählungen wohnt ein hohes Maß an Flüchtigkeit inne. Nicht umsonst bekommen Beziehungen auf Zeit und zufällige Begegnungen breiten Raum. Von Dauer ist nicht die Rede.
Auf der langen Strecke von Jahrzehnten verändert sich das Schreiben. Früher neigte André Hellers Sprache zum Gedrechselten und Gesuchten, in der ausnehmend schönen Formulierung schuf sich der Verfasser eine Auslage zur Präsentation des Ich, er blendete gern. Die späten Texte treten bescheidener auf, wirken auch stärker.
Buch:
André Heller, „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter – Erzählungen aus vielen Jahren“, Nachwort von Franz Schuh, 231 Seiten, Zsolnay Verlag, Wien 2020.