Berliner Blockade schadet dem Europa-Projekt
Zu lange sollte sich die CDU nicht Zeit lassen mit der Nachfolge von Angela Merkel. Denn die EU benötigt Reform-Anstöße.
Mit beträchtlicher Besorgnis reagiert man in Europa auf die Nachricht, dass in Deutschland mit der CDU die bestimmende Regierungspartei in die Krise geraten ist. Ausgerechnet die Christdemokraten, die lange Zeit als Ausbund von Verlässlichkeit gegolten haben, zeigen sich zerrissen und erwecken den Eindruck, dass sie um die richtige Richtung ringen.
Eine längere Phase der politischen Selbstreflexion in Deutschland berge größere Risiken, heißt es in einem britischen Blatt. Von einer neuen politischen Schwäche in Berlin spricht deutlich-direkt eine Zeitung in Italien. Vielerorts wird die demnächst abtretende Bundeskanzlerin Angela Merkel politisch schon zu einer „lahmen Ente“gestempelt.
Man erkennt darin zuallererst einen drastischen Imagewandel Deutschlands. Die Wirtschaftsmacht in der Mitte Europas, bisher Inbegriff der Stabilität, ist mittlerweile von den Krisenzeichen anderswo auf dem Kontinent eingeholt worden. Die Volksparteien der Mitte, die das politische System maßgeblich getragen haben, schrumpfen. Auch hier hat sich mit der AfD eine nationalistische, demokratiekritische Extrem-Partei der Rechten entwickelt.
Man sieht zugleich, dass angesichts der Neigung der deutschen Politik, sich mit sich selbst zu beschäftigen, europaweit die Ungeduld wächst. Das nach innen gewendete Berlin wiederum scheint dieses kritische Außenbild nicht genügend wahrzunehmen.
Tatsächlich kommt die deutsche Politik seit der Bundestagswahl 2017 nicht richtig in Bewegung. Zuerst schlug der Versuch fehl, ein neues Regierungsbündnis aus Union, FDP und Grünen zu bilden. Die nächste Große Koalition startete ohne Elan. Sie hat zuerst unter der Führungskrise bei der SPD gelitten und kommt nun durch das Machtvakuum bei der CDU ins Trudeln. Gescheitert ist Merkels Plan, Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) als Nachfolgerin aufzubauen. Solange die Union über Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur nicht entschieden hat, herrscht Ungewissheit darüber, wie es in Berlin weitergeht. Dieser Polit-Stillstand ist ein enormer Nachteil für Europa, wo vom Handeln Berlins so viel abhängt.
Allzu zäh verläuft der Abschied von der Ära Merkel. Zu wenig geregelt ist der Übergang zu einer neuen Zeit. Die 14 Amtsjahre Merkels sind von ruhigem Regieren und wachsender Prosperität gekennzeichnet gewesen. Deswegen überwiegt nun eine „Weiter-so“-Mentalität. Zu wenig aber registrieren die Deutschen, wie dramatisch die Welt sich wandelt. Die Europäer müssen sich behaupten in einer internationalen Arena, in der große Mächte rücksichtslos ihre Interessen durchsetzen wollen. Was die Zukunftstechnologien betrifft, von der E-Mobilität über die Digitalisierung bis zur künstlichen Intelligenz, drohen die Deutschen und die Europäer insgesamt ins Hintertreffen zu geraten.
Angesichts der globalen Entwicklungen braucht die Europäische Union nichts weniger als einen Reformschub. Die EU muss sich neu aufstellen, weil mit Großbritannien ein Land die Union verlässt, das ein wichtiger sicherheitspolitischer Akteur ist und eine bedeutende Wirtschaft hat (so groß wie die von 20 kleineren EU-Staaten). Folglich ist es im eigenen Interesse des Klubs von Brüssel, für die Zukunft ein möglichst produktives Verhältnis zu den Briten anzustreben.
Bisher ist für die Fortentwicklung der Europäischen Union die Balance zwischen London, Paris und Berlin entscheidend gewesen. Nach dem Ende der EU-3 kommt es mehr denn je auf das Zusammenspiel von Frankreich und Deutschland an. Aber im Getriebe des vielzitierten Tandems knirscht es derzeit leider gewaltig.
Bundeskanzlerin Merkel versteht Politik vor allem pragmatisch, hat keine Neigung zu großen Entwürfen. Präsident Emmanuel Macron hingegen entwirft strategische Visionen, will Europa vor allem außenund sicherheitspolitisch viel stärker positionieren. Macron handelt in der Fast-Allmacht eines französischen Staatschefs. Merkel aber muss Rücksicht nehmen auf vielerlei innenpolitische Spieler.
Auf die Reformideen des Franzosen für die EU hat nicht Merkel als Kanzlerin, sondern AKK als CDUChefin geantwortet. Das ist ein politischer Fehler gewesen und hat das Verhältnis zwischen Berlin und Paris getrübt. Es ist Zeit dafür, dass Deutschland die Initiative ergreift.
„Weiter so“ist kein Zukunftsrezept