Biathlon: So klein ist das Ziel*
Sehen Sie den Punkt da oben? Und: Würden Sie ihn treffen? Wie aus einer militärischen Ertüchtigung die spannendste Wintersport-Show wurde.
Ausnahmezustand herrscht in diesen Tagen im sonst so beschaulichen Antholzer Tal in Südtirol. Wo sich sonst Schneehase und Murmeltier gute Nacht sagen, marschieren Tausende auf, um ihren Helden bei der Biathlon-Weltmeisterschaft zuzujubeln. Die Kombination aus Ausdauer und Präzision, das Zusammenspiel von Langlauf und Schießen hat sich zur attraktivsten Disziplin des Wintersports entwickelt. In vielen Ländern erzielt Biathlon die mit Abstand besten TV-Zuschauerquoten. Vor Ort machen jeweils rund 60.000 Zuschauer die Weltcuprennen in Hochfilzen in Tirol, Annecy in Frankreich oder Nové Město in Tschechien zur Megaparty.
Eine solche Entwicklung war vor 40 Jahren kaum denkbar. Die biederen GewehrLangläufer mit Wollstutzen und Pudelmützen konnten auf jahrhundertelange Tradition von bewaffneten Wikingern auf Ski verweisen, waren aber so ziemlich die fadeste sportliche Angelegenheit auf Schnee. Die Athleten liefen nacheinander hinaus in den Wald, die Auswertung samt Einrechnung der Schießresultate dauerte oft eine Ewigkeit.
„Wir haben gehofft, dass die Fußgänger stehen bleiben und zuschauen“, erinnert sich Anton Plenk, ein altgedienter ehrenamtlicher Helfer beim Weltcup im bayerischen Ruhpolding, an die Anfänge in den frühen 1970er-Jahren. Es ist anzunehmen, dass die am Streckenrand aufgebaute kleine Würstelbude mehr Laufkundschaft angezogen hat als die sportliche Darbietung. Heute wird in Ruhpolding an mehr als 20 Hütten gespeist und getrunken, außerdem im Bierzelt zu Andreas Gabalier gegrölt und im großräumigen VIP-Bereich Sekt geschlürft.
Langen Atem brauchten einst nicht nur die Sportler. Die Helfer hatten vor den Rennen Hunderte Luftballons aufzublasen, auf die geschossen werden musste. Anderswo waren Glasscheiben die Ziele.
Von modernen Schießständen wie heute, die mit Computern verbunden sind und auf den Videowänden, Livetickern und im Fernsehen in Echtzeit über Treffer informieren, konnten die Biathleten früher nur träumen. Gezielt wurde mit schweren Großkaliberwaffen. Heute sind am Rand der Rennen die als Trainer oder Funktionäre anwesenden Veteranen am gebeugten Gang aufgrund ihrer Rückenbeschwerden leicht zu erkennen.
Von 150 Metern hat sich die Entfernung der Schießscheiben seit der Einführung des Kleinkalibergewehrs 1978 auf 50 Meter reduziert. Leichter wird das Treffen dadurch aber nicht, wie die optische Veranschaulichung oben auf dieser Seite zeigt. Es ist das Aha-Erlebnis für jeden Laien bei einem Biathlon-Schnupperkurs: Beim ersten Blick durch das Diopter, die Zielhilfe oben am Gewehrlauf, sind die Scheiben (4,5 Zentimeter Durchmesser beim Liegend-, 11,5 Zentimeter beim Stehendschießen) tatsächlich nur als winzige Punkte zu sehen. Vergrößerung oder Zoom? Fehlanzeige.
So wird verständlich, warum die Skijäger gelegentlich danebenschießen. Erst recht mit der Belastung des hohen Pulses, mit den Konkurrenten im Nacken, dazu noch Wind von der Seite und lautstark mitgehende Fans im Rücken. Umso mehr Respekt verdienen die Besten der Branche wie der Franzose Martin Fourcade oder der Norweger Johannes Thingnes Bø, die über eine Saison hinweg eine mehr als 90-prozentige Trefferquote schaffen.
In der Ungewissheit des Ausgangs bis zum letzten Schießen liegt die Würze dieses Sports. Ein Biathlonrennen gleicht einem guten Kinothriller: Kurz vor dem Finale kann sich das Schicksal noch einmal dramatisch wenden. Aus dem Happy End wird eine Tragödie, oder aus dem Versager noch ein Held. So wie 2012: WM in Ruhpolding, Mixed-Staffel: Deutschland läuft mit Riesenvorsprung dem sicheren Gold entgegen, als Schlussläufer Arnd Peiffer plötzlich überallhin ballert, nur nicht ins Schwarze. Was die gewissenhaften Deutschen nicht bedenken konnten: Genau an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt blinzelte dem Schützen die Sonne so ungünstig in die Augen, dass er nichts mehr sah. Am Ende gab es nur Bronze statt Gold für Peiffer und Co.
Das Schussglück ist eben ein Vogerl, wovon der Österreicher Julian Eberhard bei der WM im Vorjahr in Östersund profitierte. Im Massenstartrennen bog er als Zwölfter zum Schießen ab. Nach einer Windlotterie lief er als Zweiter wieder weg und als Dritter ins Ziel. Gerade die spannungsgeladenen Formate wie Massenstart oder
Verfolgung begeistern die Zuschauer, weil Mann gegen Mann und Frau gegen Frau direkt antreten und jeder gleich sieht, wer der Sieger ist. Der Erfindungsgeist beim Wettkampf-Ablauf hat wesentlich zur Popularität des Biathlons beigetragen. Anders als der schwerfällige Skiweltverband FIS hat sein Biathlon-Pendant IBU (Sitz in Salzburg-Nonntal) die Bewerbsformate im Lauf der Jahrzehnte publikumswirksam weiterentwickelt
Das Vorgängerformat, die „militärische Patrouille“fand zwischen 1924 und 1948 mehrfach als Vorführbewerb bei Olympischen Spielen statt, selbstverständlich in Uniformen und mit Offizieren als Mannschaftsführern. Die Herren der Ringe pflegten in dieser Ära eine seltsame Sympathie für Kriegshandwerk mit sportlicher Anmutung. Die Neuerfindung, immer noch sehr militärisch geprägt, aber in friedliebenderen Zeiten harmlos „Biathlon“genannt, erlebte 1958 die erste Weltmeisterschaft in Saalfelden. Ganze 28 Läufer aus fünf Nationen bestritten ein 20-Kilometer-Einzelrennen. Die Lokalmatadore hatten beim Bundesheer sichtlich zu wenig Scharfschießen geübt: Ein rot-weiß-roter Teilnehmer schaffte es, kein einziges der 20 Ziele (natürlich Luftballons) zu treffen.
Seit damals ist fast alles anders geworden. Nur den 20-Kilometer-Einzelbewerb (15 Kilometer für die Frauen) gibt es nach wie vor. Wie lange noch? Es gibt Bestrebungen, das letzte Relikt der WollstutzenÄra dem Diktat der TV-Quoten zu opfern. Der Trend geht zu leichter verdaulichen Eventportionen wie beim jährlichen Biathlon-Remmidemmi vor 60.000 Fans in der Fußballarena in Gelsenkirchen: Ein MixedSprint mit noch kürzeren Laufstrecken und mehr Schieß-Action soll ins Weltcupprogramm aufgenommen werden. Auch ein Massenstart mit 60 statt bisher 30 Läufern ist angedacht. Die Biathleten selbst sind eher skeptisch: „Ich finde, wir sollten bei unseren Wurzeln bleiben“, findet etwa die deutsche Weltcupläuferin Denise Herrmann. Der Blick auf die Zuschauerzahlen gibt ihr recht: Biathlon funktioniert, egal in welchem Wettkampfformat.