Atomkraft für das Klima
Polen kritisieren „Heuchelei“. Aktivisten aus Warschau demonstrieren für Nuklearstrom – in Deutschland.
Die Stimmung ist gut unter den etwa 150 Klimaaktivisten. Es gibt Kuchen und Luftballons. Sie sind vor dem Kernkraftwerk Philippsburg im deutschen Landkreis Karlsruhe zusammengekommen, um ein sogenanntes Abschaltfest zu feiern. Gleichgesinnte stoßen darauf an, dass Block 2 vom Netz gehen wird – ganz im Sinne des Atomausstiegs: Bis 2022 sollen stufenweise alle deutschen AKW abgeschaltet werden.
Aber längst nicht allen ist zum Feiern zumute. Auch eine Gruppe Klimaaktivisten der anderen Art, wie man sie nur selten sieht, hat den Weg zum alten Kraftwerk gefunden. „Rette das Klima, unterstütze das Atom“, steht auf einem Plakat, das zwei Demonstranten hochhalten – auf Polnisch. Sie sind Mitglieder der polnischen Gruppe Fota-4-Climate, zu Deutsch „Foto für das Klima“, die extra aus dem fernen Warschau angereist ist, um in Philippsburg auf die „Gefahren der deutschen Energiewende“hinzuweisen. Urszula Kuczyńska und ihre Mitstreiter sehen mit jedem Kernkraftwerk, das vom Netz geht, die Klimakatastrophe einen Schritt näher rücken.
Wie auch die Demonstranten von Fridays for Future fordern sie eine Abkehr von fossilen Brennstoffen und einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien, um den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen – mit dem Unterschied, dass die polnischen Aktivisten glauben, dass das alles nichts bringt, wenn Deutschland sich gleichzeitig von der Kernenergie verabschiedet.
Die Energiewende – den Ausstieg aus der Kohleverstromung und der Atomkraft – halten sie für nicht umsetzbar, mehr noch: Sie begreifen die deutsche Klimapolitik als eine Gefahr für Polen.
Deswegen wollen sie weiter in Deutschland protestieren. Sie haben einen offenen Brief verfasst, in dem sie die Bundesregierung dazu auffordern, den Atomausstieg zu überdenken. Er wurde von mehr als hundert polnischen Wissenschaftern und Experten unterzeichnet. Fota-4Climate ist in Polen keineswegs eine Nischengruppe, auch wenn nicht alle so drastische Worte finden wie ihre Mitglieder.
„Die Energiewende ist für mich eine große Heuchelei“, sagt Klimaaktivistin Kuczyńska. In Warschau tritt die 37-Jährige für erneuerbare Energien ein. Die Luftqualität in polnischen Großstädten ist die schlechteste in der Europäischen Union. Nicht nur wegen der vielen Autos, sondern auch weil immer noch in etlichen Haushalten Kohle verheizt wird. 79 Prozent des polnischen Energiemixes entfallen auf Kohlekraft.
So bleiben Strom- und Heizkosten zwar niedrig, dafür aber sind nirgends in Europa so viele Menschen mit Atemschutzmasken zu sehen wie in Polen. Kuczyńska will verhindern, dass die Luft noch schlechter wird. Aber es sei eben auch wichtig, sagt sie, gegen die Energiewende in Deutschland zu protestieren. Sie glaubt nicht, dass Deutschland seinen Energiebedarf – wenn es nicht
Wachstum und Konsum abschwört – mit Wind und Sonne decken kann. Es wird zunehmend auf Energieimporte angewiesen sein, wie das Beispiel Philippsburg zeigt. Das Kraftwerk hat ein Sechstel des Stroms in Baden-Württemberg geliefert. Diese Lücke, so hieß es sofort aus dem Stuttgarter Umweltministerium, solle mitunter mit Zukäufen aus Frankreich geschlossen werden, wo hauptsächlich Atomstrom in die Netze gespeist wird. Zukäufe aus dem Ausland: Das ist Kuczyńskas Angst. Sie schüttelt den Kopf und erzählt, dass bereits 2011 und 2012 die Stromproduktion in Polen gestiegen sei, um dem Bedarf in Deutschland nachzukommen. Die Aktivistin hat mehrere Jahre für einen großen polnischen Energiekonzern gearbeitet. Sie hat viele Beispiele parat. Wenn wie geplant weitere deutsche Kernkraftwerke abgeschaltet werden, gehen die Aktivisten davon aus, dass die Anlagen in ihrer Heimat auf Hochtouren laufen müssen und die Luft noch schlechter wird. Der schmutzige Kohlestrom käme dann eben aus Polen, aber er bliebe schmutzig. Das ist es, was Kuczyńska „Heuchelei“nennt. Sie zählt zum harten Kern von Fota-4-Climate. Gegründet wurde die Gruppe vor drei Jahren von dem Umweltanwalt und Philosophen Andrzej Gąsiorowski. Der 44-Jährige steht mit verschränkten Armen vor einem Warschauer Kaffeehaus. Mit ruhiger, tiefer Stimme legt er dar, was sich in seinen Augen ändern muss, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Gegen den Bau eines Kernkraftwerks in Polen hätte er nichts einzuwenden, aber es geht ihm in erster Linie darum, dass bestehende Kraftwerke in Europa nicht vom Netz genommen werden. „Natürlich ist Atomkraft kein Allheilmittel und kann nicht die einzige Antwort auf den Klimawandel sein“, sagt er. Aber sie sei ein wichtiger Teil der Lösung. Wohin mit Atommüll? Das weiß auch Gąsiorowski nicht. Aber das drängendere Problem sei nun einmal der Klimawandel. Er bezieht sich auf den Weltklimarat, der Kernenergie als emissionsarme Alternative auch nicht kategorisch ausschließt, und fragt sich, warum die Klimabewegung in Deutschland das nicht sehen will. Gąsiorowski wünscht sich mehr Pragmatismus in der Debatte. Dazu möchte er mit seiner Organisation beitragen, am besten gleich europaweit. Zwar ist auch die polnische Klimabewegung in Sachen Atomkraft gespalten. Nicht für alle ist Kernenergie das kleinere Übel. Allerdings steht die polnische parlamentarische Linke Fota-4-Climate nah. Die Partei Razem (Zusammen), die im Oktober vergangenen Jahres erstmals in den Sejm, das Unterhaus, gewählt wurde, zählt zu den wenigen linken Parteien in Europa, die eine positive Haltung zur Atomkraft haben. Es ist kein Zufall, dass die Aktivistin Urszula Kuczyńska auch Mitglied von Razem ist. Nun wollen die Aktivisten dem deutschen Botschafter in Warschau eine Liste mit ihren Forderungen überreichen. „Wir wollen keinen Konflikt und auch nicht zu belehrend auftreten. Aber die Verringerung von Emissionsausstößen muss Priorität haben“, sagt Andrzej Gąsiorowski.