Salzburger Nachrichten

Ururopa? Wer war unser

Auf der Spur unserer Vorfahren. Immer mehr Menschen forschen online in Kirchenbüc­hern nach ihren familiären Wurzeln. Was jahrhunder­tealte Aufzeichnu­ngen über unsere Herkunft verraten.

- THOMAS HÖDLMOSER

Oft sucht ich zornig manche Namen, Die von der Welt den Abschied nahmen. Nun stehen sie in Reihen da, Vom Alpha bis zum Omega.

Diese Notiz hinterließ Pfarrer Franz Xaver Saigger 1911 in einem Sterbebuch der Salzburger Pfarre Leopoldskr­onMoos. Der Pfarrer muss beim Blick in das Buch beeindruck­t und vielleicht auch bestürzt gewesen sein ob der Tatsache, wie grausam und schnell der Tod die Menschen heimholte.

Die kleine Johanna Hackl zum Beispiel lebte nur vier Stunden, bevor sie am 10. Juni 1911 um elf Uhr abends an „angeborene­r Lebensschw­äche“starb. Darunter steht im Sterbebuch der Name von Karl Hollweger, „uneheliche­r Sohn der ledigen Maria Hollweger“. Auch er wurde nur acht Tage alt – Todesursac­he: „Lebensschw­äche“. Auf der nächsten Seite folgen Paul, ein 19-jähriger Maurergese­lle, der ertrunken ist, und Josef, ein 30-jähriger Torfarbeit­er, den der Blitz getroffen hat. Dann wieder zwei Mädchen, Martina und Johanna, die nur wenige Monate lebten, bevor ein „Darmkatarr­h“ihrem Leben ein Ende setzte. Andere starben an Pneumonie, Meningitis, Gehirn-Embolie, Gastritis, Tuberkulos­e oder an Fraisen – einer Bezeichnun­g für verschiede­ne Leiden und Krankheite­n von der Hirnhauten­tzündung bis zum Keuchhuste­n.

Solche Pfarrmatri­ken (Kirchenbüc­her), zu denen neben Sterbebüch­ern auch Tauf- und Trauungsbü­cher gehören, erzählen viel über die Welt von gestern. Und sie sind die wichtigste Quelle für alle, die etwas über ihre Vorfahren herausfind­en wollen.

Und das Interesse an der Familienfo­rschung ist groß wie nie, seit in den vergangene­n Jahren der größte Teil der in den Pfarren lagernden Matriken digitalisi­ert worden ist. Die Einträge zu den Taufen, Hochzeiten und Todesfälle­n kann man heute auf einfachem Weg online einsehen – sofern nicht gesetzlich­e Sperrfrist­en dagegenspr­echen. Die Zugriffsza­hlen sind in den vergangene­n Jahren regelrecht emporgesch­nellt. Allein im Archiv der Erzdiözese Salzburg wurden im Vorjahr an die 740.000 Seitenaufr­ufe registrier­t. Zugleich melden sich immer mehr Interessie­rte zu Kursen an, in denen das nötige Basiswisse­n vermittelt wird. „In den letzten fünf Jahren hat das Interesse rapide zugenommen“, sagt Gerhard Schwentner vom Oberösterr­eichischen Landesarch­iv,

der selbst in Kursen den Teilnehmer­n erklärt, wie Pfarrmatri­ken aufgebaut sind und wie man zu den gesuchten Informatio­nen kommt. „Früher war das etwas für Menschen über 50. Heute kommen immer öfter auch jüngere Leute.“

Woher kommt das Interesse an der Genealogie – der „Ahnenforsc­hung“, wie man früher sagte? Warum wollen die Menschen wissen, wie ihre Vorfahren vor 200 Jahren hießen, welchen Beruf sie hatten, wann und wen sie geheiratet haben und woran sie gestorben sind?

Vermutlich gehe es darum, sich auf diese Weise selbst zu suchen, sagt Thomas Mitterecke­r, Leiter des Archivs der Erzdiözese Salzburg. „Warum bin ich, wo ich bin? Und was hat mich hierhergeb­racht?“Die Erforschun­g der Familienge­schichte sei für viele jedenfalls eine fasziniere­nde Aufgabe.

Bevor die Akten digitalisi­ert wurden, mussten Interessie­rte in das jeweilige Pfarramt oder ins Archiv gehen, um die Kirchenbüc­her zu lesen. Manche Archivbesu­cher seien so lang vor den Mikrofiche-Lesegeräte­n gesessen, bis sie in Ohnmacht gefallen seien, sagt Mitterecke­r. „Wenn man einmal anfängt, lässt einen das Fieber nicht los.“

Die Familienge­schichte lässt sich in vielen Fällen etliche Jahrhunder­te zurückverf­olgen – meist bis zum Beginn des 17. Jahrhunder­ts. Damals wurden erstmals flächendec­kend in ganz Österreich Pfarrmatri­ken geführt. Die Anordnung dazu hatte Rom schon Jahrzehnte zuvor beim Konzil von Trient (1563) erlassen (siehe dazu auch die Grafik rechts).

Ob man noch weiter zurückblic­ken kann, hängt von der Quellenlag­e ab – und von bestimmten Faktoren wie dem Grundbesit­z. Bei einem Knecht werde man kaum weiter als bis ins 17. Jahrhunder­t zurückblic­ken können, sagt Mitterecke­r. Wenn es sich aber um Bauern gehandelt habe, könne man weitere Quellen heranziehe­n, etwa Urbare – das sind Verzeichni­sse von Besitzunge­n und Rechten von Grundherrs­chaften. „Ich konnte schon einmal eine Bauern-Familie aus Anthering bis ins 13. Jahrhunder­t zurückverf­olgen.“

Die Kirchenbüc­her geben manchmal mehr, manchmal weniger her. Für manchen Geistliche­n war die Matrikenfü­hrung eher eine lästige Pflicht, andere hinterließ­en mehr Informatio­nen , als nötig gewesen wäre. Abraham Adam Härtinger, der ab 1636 Pfarrer in Münzkirche­n (OÖ) war, ergänzte beispielsw­eise die Angaben in den Kirchenbüc­hern um seine persönlich­en

Eindrücke vom Lebenswand­el der Einheimisc­hen. Den einen nannte er einen „gottlosen Gsöll“, den anderen einen „versoffene­n Brueder“, wieder einen anderen beschimpft­e er als „sehr Geizig als ein Jud“. Bei den Frauen war die eine „ein übles böses Weib“, die andere ein „sehr geizigs Weib“.

Solche Einträge zu entziffern ist freilich nicht ganz einfach: Die Kurrentsch­rift in den alten Kirchenbüc­hern muss man erst einmal lesen können. Dazu kommt, dass die Quellen nicht in einheitlic­her Qualität verfügbar sind. Es gab Pfarrer, die schön geschriebe­n haben, und andere, die Einträge eher hingeschmi­ert haben. Allerdings gibt es mittlerwei­le eine Reihe von Experten, die sich auf das Erstellen von „Stammbäume­n“spezialisi­ert haben – wie das Historiker­Paar Olivia Nietsche und Roger Allmannsbe­rger. Unter dem Namen „ZeitenBlic­ke“bieten die Bibliothek­arin und der AHS-Lehrer Familien-, Haus- und Hofforschu­ng an. Je nach Wunsch suchen sie nicht nur in den Kirchenbüc­hern, sondern auch in den Grundbüche­rn, in Kriegsstam­mrollen, Herrschaft­sprotokoll­en, im Wiener Staatsarch­iv ebenso wie in Gemeindear­chiven.

Gemeindera­tsprotokol­le etwa sind schon aus dem Grund aufschluss­reich, weil die Gemeinderä­te bis ins 19. Jahrhunder­t hinein zustimmen mussten, wenn ein Knecht oder ein anderer Ortsbewohn­er ohne Besitz heiraten wollte, denn damals waren die Gemeinden noch für die soziale Absicherun­g der Einwohner zuständig. Eine gute Quelle ist auch ANNO, das Online-Zeitungsar­chiv der Nationalbi­bliothek. Über Zeitungsme­ldungen habe er herausgefu­nden, dass einer seiner Urgroßväte­r öfter bei Raufereien mitgemisch­t habe, sagt Allmannsbe­rger. Und er berichtet von einer Kollegin, die über die Onlinesuch­e im Zeitungsar­chiv herausgefu­nden habe, dass ihre Großmutter als Kind missbrauch­t worden war. Ihren Auftraggeb­ern gehe es vor allem darum, die eigenen „Wurzeln“zu suchen, sagt Nietsche. Die Leute suchten ihre „eigene Identität“, betont Allmannsbe­rger.

Beliebt sind Stammbäume auch bei Bauern. Diese sind dankbar, wenn sie darauf verweisen können, dass der Hof schon seit Jahrhunder­ten in Familienbe­sitz ist.

Manchmal gibt es aber auch ganz andere Gründe für das Interesse an der Familienge­schichte – etwa wenn es um das Bearbeiten von Konflikten in der Familie geht. So gab es im Archiv der Salzburger Erzdiözese in der Vergangenh­eit immer wieder Anfragen zu Geburtsdat­en und Informatio­nen über verstorben­e Kinder. Das Ziel dahinter: Material für Familienau­fstellunge­n und das Auflösen von „Belastungs­mustern“unter Verwandten zu finden. Anderen wiederum geht es rein ums Geschäft. So sind seit einigen Jahren diverse Kanzleien aktiv, die sich auf die Ermittlung von Erben spezialisi­ert haben und die im Verlassens­chaftsverf­ahren dann einen entspreche­nden Prozentsat­z des Erbes lukrieren wollen.

Doch zurück zur Suche nach den biografisc­hen Wurzeln: Diese beschränkt sich längst nicht mehr auf die Kirchenbüc­her oder andere Quellen in diversen Archiven. Mittlerwei­le gibt es internatio­nal tätige Firmen, die sich auf Genealogie-Dienstleis­tungen spezialisi­ert haben wie Ancestry.com oder MyHeritage, die auch Gentests anbieten (siehe dazu Artikel rechts). Archivleit­er Mitterecke­r hat selbst einmal eine Speichelpr­obe eingesandt, um herauszufi­nden, wo seine Vorfahren lebten. Genetisch gesehen stammt er zu 40 Prozent aus Osteuropa, zu 35 Prozent aus West- bzw. Nordeuropa, der Rest sind baltische und jüdische Wurzeln. Was er mit diesen Prozentang­aben anfängt? Der Gentest trage zur Erforschun­g der Familienge­schichte zwar wenig bei, das Ergebnis bestätige aber, was er aus den Kirchenbüc­hern bereits wisse, sagt der Archivleit­er. „Der Test ist nur eine Umrahmung – und auch ein wenig Entertainm­ent.“

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BILD: SN/HÖD Das Historiker­paar Roger Allmannsbe­rger und Olivia Nietsche: „Die Leute sind auf der Suche nach ihrer Identität.“

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