Ururopa? Wer war unser
Auf der Spur unserer Vorfahren. Immer mehr Menschen forschen online in Kirchenbüchern nach ihren familiären Wurzeln. Was jahrhundertealte Aufzeichnungen über unsere Herkunft verraten.
Oft sucht ich zornig manche Namen, Die von der Welt den Abschied nahmen. Nun stehen sie in Reihen da, Vom Alpha bis zum Omega.
Diese Notiz hinterließ Pfarrer Franz Xaver Saigger 1911 in einem Sterbebuch der Salzburger Pfarre LeopoldskronMoos. Der Pfarrer muss beim Blick in das Buch beeindruckt und vielleicht auch bestürzt gewesen sein ob der Tatsache, wie grausam und schnell der Tod die Menschen heimholte.
Die kleine Johanna Hackl zum Beispiel lebte nur vier Stunden, bevor sie am 10. Juni 1911 um elf Uhr abends an „angeborener Lebensschwäche“starb. Darunter steht im Sterbebuch der Name von Karl Hollweger, „unehelicher Sohn der ledigen Maria Hollweger“. Auch er wurde nur acht Tage alt – Todesursache: „Lebensschwäche“. Auf der nächsten Seite folgen Paul, ein 19-jähriger Maurergeselle, der ertrunken ist, und Josef, ein 30-jähriger Torfarbeiter, den der Blitz getroffen hat. Dann wieder zwei Mädchen, Martina und Johanna, die nur wenige Monate lebten, bevor ein „Darmkatarrh“ihrem Leben ein Ende setzte. Andere starben an Pneumonie, Meningitis, Gehirn-Embolie, Gastritis, Tuberkulose oder an Fraisen – einer Bezeichnung für verschiedene Leiden und Krankheiten von der Hirnhautentzündung bis zum Keuchhusten.
Solche Pfarrmatriken (Kirchenbücher), zu denen neben Sterbebüchern auch Tauf- und Trauungsbücher gehören, erzählen viel über die Welt von gestern. Und sie sind die wichtigste Quelle für alle, die etwas über ihre Vorfahren herausfinden wollen.
Und das Interesse an der Familienforschung ist groß wie nie, seit in den vergangenen Jahren der größte Teil der in den Pfarren lagernden Matriken digitalisiert worden ist. Die Einträge zu den Taufen, Hochzeiten und Todesfällen kann man heute auf einfachem Weg online einsehen – sofern nicht gesetzliche Sperrfristen dagegensprechen. Die Zugriffszahlen sind in den vergangenen Jahren regelrecht emporgeschnellt. Allein im Archiv der Erzdiözese Salzburg wurden im Vorjahr an die 740.000 Seitenaufrufe registriert. Zugleich melden sich immer mehr Interessierte zu Kursen an, in denen das nötige Basiswissen vermittelt wird. „In den letzten fünf Jahren hat das Interesse rapide zugenommen“, sagt Gerhard Schwentner vom Oberösterreichischen Landesarchiv,
der selbst in Kursen den Teilnehmern erklärt, wie Pfarrmatriken aufgebaut sind und wie man zu den gesuchten Informationen kommt. „Früher war das etwas für Menschen über 50. Heute kommen immer öfter auch jüngere Leute.“
Woher kommt das Interesse an der Genealogie – der „Ahnenforschung“, wie man früher sagte? Warum wollen die Menschen wissen, wie ihre Vorfahren vor 200 Jahren hießen, welchen Beruf sie hatten, wann und wen sie geheiratet haben und woran sie gestorben sind?
Vermutlich gehe es darum, sich auf diese Weise selbst zu suchen, sagt Thomas Mitterecker, Leiter des Archivs der Erzdiözese Salzburg. „Warum bin ich, wo ich bin? Und was hat mich hierhergebracht?“Die Erforschung der Familiengeschichte sei für viele jedenfalls eine faszinierende Aufgabe.
Bevor die Akten digitalisiert wurden, mussten Interessierte in das jeweilige Pfarramt oder ins Archiv gehen, um die Kirchenbücher zu lesen. Manche Archivbesucher seien so lang vor den Mikrofiche-Lesegeräten gesessen, bis sie in Ohnmacht gefallen seien, sagt Mitterecker. „Wenn man einmal anfängt, lässt einen das Fieber nicht los.“
Die Familiengeschichte lässt sich in vielen Fällen etliche Jahrhunderte zurückverfolgen – meist bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Damals wurden erstmals flächendeckend in ganz Österreich Pfarrmatriken geführt. Die Anordnung dazu hatte Rom schon Jahrzehnte zuvor beim Konzil von Trient (1563) erlassen (siehe dazu auch die Grafik rechts).
Ob man noch weiter zurückblicken kann, hängt von der Quellenlage ab – und von bestimmten Faktoren wie dem Grundbesitz. Bei einem Knecht werde man kaum weiter als bis ins 17. Jahrhundert zurückblicken können, sagt Mitterecker. Wenn es sich aber um Bauern gehandelt habe, könne man weitere Quellen heranziehen, etwa Urbare – das sind Verzeichnisse von Besitzungen und Rechten von Grundherrschaften. „Ich konnte schon einmal eine Bauern-Familie aus Anthering bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen.“
Die Kirchenbücher geben manchmal mehr, manchmal weniger her. Für manchen Geistlichen war die Matrikenführung eher eine lästige Pflicht, andere hinterließen mehr Informationen , als nötig gewesen wäre. Abraham Adam Härtinger, der ab 1636 Pfarrer in Münzkirchen (OÖ) war, ergänzte beispielsweise die Angaben in den Kirchenbüchern um seine persönlichen
Eindrücke vom Lebenswandel der Einheimischen. Den einen nannte er einen „gottlosen Gsöll“, den anderen einen „versoffenen Brueder“, wieder einen anderen beschimpfte er als „sehr Geizig als ein Jud“. Bei den Frauen war die eine „ein übles böses Weib“, die andere ein „sehr geizigs Weib“.
Solche Einträge zu entziffern ist freilich nicht ganz einfach: Die Kurrentschrift in den alten Kirchenbüchern muss man erst einmal lesen können. Dazu kommt, dass die Quellen nicht in einheitlicher Qualität verfügbar sind. Es gab Pfarrer, die schön geschrieben haben, und andere, die Einträge eher hingeschmiert haben. Allerdings gibt es mittlerweile eine Reihe von Experten, die sich auf das Erstellen von „Stammbäumen“spezialisiert haben – wie das HistorikerPaar Olivia Nietsche und Roger Allmannsberger. Unter dem Namen „ZeitenBlicke“bieten die Bibliothekarin und der AHS-Lehrer Familien-, Haus- und Hofforschung an. Je nach Wunsch suchen sie nicht nur in den Kirchenbüchern, sondern auch in den Grundbüchern, in Kriegsstammrollen, Herrschaftsprotokollen, im Wiener Staatsarchiv ebenso wie in Gemeindearchiven.
Gemeinderatsprotokolle etwa sind schon aus dem Grund aufschlussreich, weil die Gemeinderäte bis ins 19. Jahrhundert hinein zustimmen mussten, wenn ein Knecht oder ein anderer Ortsbewohner ohne Besitz heiraten wollte, denn damals waren die Gemeinden noch für die soziale Absicherung der Einwohner zuständig. Eine gute Quelle ist auch ANNO, das Online-Zeitungsarchiv der Nationalbibliothek. Über Zeitungsmeldungen habe er herausgefunden, dass einer seiner Urgroßväter öfter bei Raufereien mitgemischt habe, sagt Allmannsberger. Und er berichtet von einer Kollegin, die über die Onlinesuche im Zeitungsarchiv herausgefunden habe, dass ihre Großmutter als Kind missbraucht worden war. Ihren Auftraggebern gehe es vor allem darum, die eigenen „Wurzeln“zu suchen, sagt Nietsche. Die Leute suchten ihre „eigene Identität“, betont Allmannsberger.
Beliebt sind Stammbäume auch bei Bauern. Diese sind dankbar, wenn sie darauf verweisen können, dass der Hof schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz ist.
Manchmal gibt es aber auch ganz andere Gründe für das Interesse an der Familiengeschichte – etwa wenn es um das Bearbeiten von Konflikten in der Familie geht. So gab es im Archiv der Salzburger Erzdiözese in der Vergangenheit immer wieder Anfragen zu Geburtsdaten und Informationen über verstorbene Kinder. Das Ziel dahinter: Material für Familienaufstellungen und das Auflösen von „Belastungsmustern“unter Verwandten zu finden. Anderen wiederum geht es rein ums Geschäft. So sind seit einigen Jahren diverse Kanzleien aktiv, die sich auf die Ermittlung von Erben spezialisiert haben und die im Verlassenschaftsverfahren dann einen entsprechenden Prozentsatz des Erbes lukrieren wollen.
Doch zurück zur Suche nach den biografischen Wurzeln: Diese beschränkt sich längst nicht mehr auf die Kirchenbücher oder andere Quellen in diversen Archiven. Mittlerweile gibt es international tätige Firmen, die sich auf Genealogie-Dienstleistungen spezialisiert haben wie Ancestry.com oder MyHeritage, die auch Gentests anbieten (siehe dazu Artikel rechts). Archivleiter Mitterecker hat selbst einmal eine Speichelprobe eingesandt, um herauszufinden, wo seine Vorfahren lebten. Genetisch gesehen stammt er zu 40 Prozent aus Osteuropa, zu 35 Prozent aus West- bzw. Nordeuropa, der Rest sind baltische und jüdische Wurzeln. Was er mit diesen Prozentangaben anfängt? Der Gentest trage zur Erforschung der Familiengeschichte zwar wenig bei, das Ergebnis bestätige aber, was er aus den Kirchenbüchern bereits wisse, sagt der Archivleiter. „Der Test ist nur eine Umrahmung – und auch ein wenig Entertainment.“