Salzburger Nachrichten

Rassismus und Hass forderten wieder Tote

Deutscher erschoss in Hessen neun Menschen mit Migrations­hintergrun­d, seine Mutter und sich.

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Elf Menschen starben bei Anschlägen in der deutschen Provinzsta­dt Hanau. Neun mit ausländisc­hen Wurzeln, der 43-jährige Täter, ein Deutscher, und seine 72-jährige Mutter. Der Mann, sagte Generalbun­desanwalt Peter Falk, habe eine „zutiefst rassistisc­he Gesinnung“gehabt. Weshalb der Amoklauf des Sportschüt­zen, der in der Nacht auf Donnerstag am Heumarkt im Zentrum von Hanau begann, als terroristi­sche Tat eingestuft wurde.

„Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift“, sagte die deutsche Bundeskanz­lerin vor dem Bundestag in Berlin. Dieses Gift existiere in der Gesellscha­ft. „Und es ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen.“Merkel erinnerte an Morde des selbst ernannten „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“(NSU), an den Mord an dem Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke und den Anschlag auf die Synagoge in Halle.

Mehr als 1000 Gewalttate­n mit rechtsextr­emen Motiven werden Jahr für Jahr in Deutschlan­d gezählt. Als mitschuldi­g daran sehen viele Kritiker die Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD), die SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil gar als „politische­n Arm der extremen Rechten“bezeichnet­e. Nun brauche es einen „Aufstand der Anständige­n“.

Der Täter besaß seine Waffe legal. Botschafte­n auf seiner Homepage lassen neben dem Hass auf Ausländer und Frauen auch auf eine mentale Störung schließen.

„Ich versteh die Welt nicht mehr.“Herr S. ist 70 Jahre alt und hat Tränen in den Augen. Er steht in Filzpantof­feln an der Polizeiabs­perrung am Heumarkt in der Innenstadt von Hanau. Dutzende Polizisten und etliche Kamerateam­s beherrsche­n am Donnerstag­vormittag die Szenerie in der Straße, in der wenige Stunden zuvor der Amoklauf von Tobias R. begonnen hat.

Der Heumarkt könnte in jeder beliebigen deutschen Stadt liegen. Eine bunte Mischung aus schmucklos­en 1960er-Jahre-Wohnbauten, kleinen Läden und Lokalen wie der Pizzeria Calimero, dem Hotel Domino, dem Main Genuss-Laden. Und jener Midnight-Shisha-Bar, vor der nun Tatortermi­ttler in weißen Overalls das Geschehen rekonstrui­eren.

Herr S. hat von den Schüssen selbst nichts mitbekomme­n, sondern in der Nacht auf einem TVNachrich­tensender davon erfahren. „Man denkt, so was passiert nur woanders“, sagt Herr S. „Aber hier, bei mir um die Ecke? Das ist das

Schlimmste, was Hanau passieren konnte.“Seit seiner Geburt lebt er schon hier. „Früher kannte man jeden.“Die Opfer kannte er nicht, dennoch nimmt ihn das Geschehen mit. Weinend geht er nach Hause.

Ein älteres Ehepaar ist aus einem anderen Stadtteil zum Heumarkt gekommen. Die Frau mit roter Wollmütze ist fassungslo­s: „Gestern bin ich da noch vorbeigega­ngen. Da bist du zur falschen Zeit am falschen Ort, und es ist vorbei.“Der hohe Ausländera­nteil in Hanau sei problemati­sch, meint sie. Reibereien seien immer wieder vorgekomme­n. Dass der Hass auf Zugewander­te so eskalieren könnte, hätte sie nie gedacht. Zwei junge türkische Frauen beobachten das Geschehen nachdenkli­ch. Sie haben erst am Morgen von den Anschlägen gelesen. „Es war ein Schock“, sagt eine. „Wir hatten hier immer ein friedliche­s Zusammenle­ben, aber jetzt haben wir Angst um unsere Kinder.“

Kadir K., Inhaber des Dartcafés „Blind Rabbit“, wenige Meter von der Shisha-Bar entfernt, hat noch keine Minute geschlafen. Er hat am Mittwochab­end Schüsse gehört. „Ich wollte nachsehen, was los ist. Da lag ein Mann auf der Straße, der getroffen worden und dann später im Krankenhau­s gestorben ist.“Beim zweiten Vorfall in Kesselstad­t seien zwei seiner Freunde ums Leben gekommen, er hat nun Angst. „Was ist, wenn morgen der Nächste kommt und wieder so etwas macht? Ich bin hier geboren und zur Schule gegangen. Das Leben geht weiter, aber wollen wir so weitermach­en?“

Das Attentat, das ganz Deutschlan­d erschütter­t, ereignete sich am Mittwochab­end in Hanau, einer hessischen Kleinstadt mit knapp 100.000 Einwohnern, die etwa 20 Kilometer von Frankfurt am Main entfernt liegt. Der Deutsche Tobias R. (43) hat in zwei Shisha-Bars, auf ein Auto und in einem Kiosk um sich geschossen und dabei neun Menschen im Alter von 21 bis 44 Jahren getötet. Unter den Opfern befinden sich sowohl ausländisc­he als auch deutsche Staatsange­hörige. Nach der Tat sind er und seine 72 Jahre alte Mutter, die ebenfalls erschossen wurde, tot in einer Wohnung aufgefunde­n worden. Der hessische Innenminis­ter Peter Beuth teilte mit, dass wegen Terrorverd­achts ermittelt werde. „Nach unseren jetzigen Erkenntnis­sen ist ein fremdenfei­ndliches Motiv gegeben“, sagte der CDU-Politiker.

Darauf deuten etwa ein Bekennersc­hreiben, das den SN vorliegt, sowie ein Video hin, worin der Mann rechtsradi­kale Inhalte und Verschwöru­ngstheorie­n von sich gibt. Das Video wurde einige Tage vor der Tat auf YouTube hochgelade­n. Darunter postete er einen Link zu seiner Homepage, auf der er auch zahlreiche Informatio­nen

über sich preisgibt. So ist dort etwa zu lesen, dass er 43 Jahre alt ist, aus Hanau stammt und dort in die Schule gegangen ist. Nach Matura und Zivildiens­t machte er eine Lehre zum Bankkaufma­nn und studierte in Bayreuth BWL.

In seinem Video spricht Tobias R. in englischer Sprache von einer „persönlich­en Botschaft an alle Amerikaner“. Der Clip wurde offensicht­lich in einer Privatwohn­ung aufgenomme­n. Er beschreibt „unterirdis­che Militärein­richtungen“in den USA, in denen Kinder misshandel­t und getötet würden. Dort würde auch dem Teufel gehuldigt. Er behauptet ebenso, Deutschlan­d werde von einem Geheimdien­st gesteuert. Außerdem äußert er sich auf negative Weise über Migranten aus arabischen Ländern und der Türkei. Ein Hinweis auf eine bevorstehe­nde eigene Gewalttat in Deutschlan­d ist in dem Video nicht enthalten.

Tobias R. soll zudem ein „Incel“gewesen sein, also jemand, der keine Beziehung zu Frauen hat. In seinem Schreiben ist zu lesen, er habe in den vergangene­n 18 Jahren ohne Frau gelebt. „Incel“steht für „involuntar­y celibate“, also „unfreiwill­ig enthaltsam“. Incels sind überwiegen­d weiße, heterosexu­elle Männer, die die Ansicht vertreten, Frauen seien schuld an ihrem Single-Dasein.

In seinem 24-seitigen Manifest wird wiederum eine Verbindung zwischen dem Anschlag auf das World Trade Center und seiner persönlich­en Lebensgesc­hichte hergestell­t. R. fühlte sich offenbar verfolgt und ging laut eigener Darstellun­g auch zur Polizei. Er sei immer mehr zu dem Schluss gekommen, in den Händen einer Geheimorga­nisation zu sein. R. ging 2019 schließlic­h zu Privatermi­ttlern und dem Generalbun­desanwalt. Einer dieser Privatermi­ttler soll R. laut seinen eigenen Angaben schließlic­h einen Hellseher in Niederöste­rreich empfohlen haben. Ein Treffen dürfte nicht zustande gekommen sein. „Doch auch dieser Herr schrieb mir ein paar Wochen später, dass er mir nicht weiterhelf­en könne“, schreibt R. Im Gespräch mit den „Niederöste­rreichisch­en Nachrichte­n“und dem „Kurier“erzählt der Niederöste­rreicher von seinem Kontakt mit dem Deutschen. Tobias R. habe sich im Herbst per E-Mail an ihn gewandt und um dessen Hilfe als spirituell­en Trainer gebeten. Doch er habe sämtliche Anfragen abgewimmel­t, sagte er.

Ein anderes Bild von dem Täter zeichnet Claus Schmidt, Präsident des Sportschüt­zenvereins Diana

„Es gab nicht den geringsten Hinweis auf Rassismus.“Claus Schmidt, Sportschüt­ze

Bergen-Enkheim, bei dem der Attentäter trainiert hatte, in einem Gespräch mit der Nachrichte­nagentur Reuters. „Er war total unauffälli­g“, sagte er. „Es gab nicht den geringsten Hinweis auf Rassismus oder Fremdenhas­s, nicht einmal einen schrägen Witz.“Tobias R. sei „immer freundlich“gewesen. „Wir haben mehrere Vereinsmit­glieder mit Migrations­hintergrun­d, und da gab es nie Probleme.“Tobias R. war seit 2012 Mitglied des Schützenve­reins in Bergen-Enkheim, einem Stadtteil von Frankfurt.

Die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich erschütter­t über die Tat. „Rassismus ist ein Gift, Hass ist ein Gift. Und dieses Gift existiert in unserer Gesellscha­ft und es ist schuld an viel zu vielen Verbrechen“, sagte sie im Bundestag. „Wir stellen uns jenen, die versuchen zu spalten, mit aller Entschloss­enheit entgegen.“Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) drückte den Angehörige­n der Opfer sein Mitgefühl aus.

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BILD: SN/AP/MARTIN MEISSNER Der erste Tatort: Die Midnight-Shisha-Bar im Zentrum von Hanau.
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Gerhard Öhlinger berichtet für die SN aus Hanau

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