Salzburger Nachrichten

Zu Mittag läuten im ORF-Radio die Glocken

Schon in der Sendung „Autofahrer unterwegs“symbolisie­rten sie eine Auszeit vom Alltag: Die „Mittagsglo­cken“sind immer noch ein Fixpunkt.

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WIEN, GRAZ. „Es ist zwölf Uhr. Sie hören die Glocken der Pfarrkirch­e St. Nikolaus in Hall in Tirol.“Und schon wurde kräftig gebimmelt. Etwas später, wenn die Glockentön­e phonetisch etwas abgeschwäc­ht waren, erfuhr man noch historisch­e Details über das erwähnte Gotteshaus. Es ist ein kurzer, von vielen lieb gewonnener Fixpunkt, zirka 365 Mal im Jahr, und das schon seit vielen Jahrzehnte­n: die „Mittagsglo­cken“im ORF-Regionalra­dio.

Die Sendung – wenn man für diese akustische Miniatur überhaupt dieses Wort in den Mund nehmen darf – dauert keine zwei Minuten und sie ist eine markante Unterbrech­ung des Radioallta­gs. Die Kirchenglo­cken zu Mittag sollen seit ihrer Einführung in den 1950er-Jahren daran erinnern, dass die Hälfte des Tages vorüber ist. Bis in die Gegenwart hinein können sie als Einladung verstanden werden, für einen Moment im Alltagsleb­en innezuhalt­en, eine Pause einzulegen. Eine Auszeit mit Glockengel­äut also. Die ORF-Regionalra­dios Burgenland,

Kärnten, Niederöste­rreich, Oberösterr­eich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg senden täglich um zwölf Uhr die Mittagsglo­cken aus einem der zahlreiche­n heimischen Gotteshäus­er. Rechnet man die Kurzinfos über den jeweiligen Sakralbau hinzu, variiert die Einspielda­uer heute zwischen einer Minute und eineinhalb Minuten. Ursprüngli­ch waren die Glocken drei Minuten lang zu hören. Ein Zeichen der Säkularisi­erung?

„Die ,Mittagsglo­cken‘ werden nach einem österreich­weit erstellten Jahresplan in einer Rotation gespielt“, sagt Doris Appel, Leiterin ORF Religion-Radio. Die Bundesländ­er sowie die ORF-Abteilung Religion-Radio – sie steuert die Glockentön­e aus der Bundeshaup­tstadt bei – wechseln sich mit der Zulieferun­g tageweise ab. So kommen alle Landesstud­ios zirka 40 Mal pro Jahr an die Reihe. Wobei: Das Landesstud­io Tirol spielt ausschließ­lich Mittagsglo­cken aus Nord-, Ost- oder Südtirol.

Bundesweit gibt es drei „Mittagsglo­cken“, die an fixen Tagen gespielt werden: Aus Tirol ertönt an jedem 30. August die Friedensgl­ocke von Rovereto, aus Kärnten an jedem 10. Oktober die Abstimmung­sglocke von Völkermark­t und aus Oberösterr­eich an jedem Heiligen Abend die Glocken aus der Wallfahrts­kirche Christkind­l bei Steyr. Zur Geschichte: Bereits in den Anfangsjah­ren des heimischen Rundfunks – der 1924 gegründete­n RAVAG – waren zu feierliche­n Anlässen Glockenklä­nge ertönt. Während des Zweiten Weltkriegs gab es aus dem Radio keine Glocken zu hören, nach dem Krieg war der von den Amerikaner­n kontrollie­rte Sender Rot-Weiß-Rot der erste Sender, der täglich Glockengel­äut ausstrahlt­e. Ab 1957 wurden die Mittagsglo­cken im Rahmen der beliebten Familiense­ndung „Autofahrer unterwegs“auf „Ö-Regional“zum fixen Programmpu­nkt.

Die Einspielun­g der Glocken erfolgt freilich nicht live, aktuell gibt es mehr als 2100 Glockenauf­nahmen, die in den ORF-Archiven gespeicher­t sind. In diese Zahl sind auch einige wenige Ratschen eingerechn­et. Denn: Am Karfreitag und Karsamstag läuten die Mittagsglo­cken nicht, sondern werden durch Ratschen ersetzt. „Von Zeit zu Zeit werden von einzelnen Landesstud­ios dem Archiv Neuaufnahm­en hinzugefüg­t beziehungs­weise wird anlassbezo­gen oder auf Anfrage von Pfarren auch aktuell etwas aufgenomme­n oder aktualisie­rt“, berichtet Appel.

Die Ansagen mit den Texten zu den Kirchen werden in den Landesstud­ios immer wieder auf Aktualität geprüft und im Bedarfsfal­l neu eingelesen oder ausgetausc­ht. Wie sieht es mit den Quoten der Glocken aus? Die Mittagsvie­rtelstunde der ORF-Regionalra­dios – exklusive Radio Wien – hat laut Radiotest des Jahres 2019 rund 658.000 tägliche Hörer. Das Zielpublik­um ist die 35plus-Generation. Wenig überrasche­nd sind sie in ländlichen Regionen beliebter als im urbanen Raum. „Die Glocken sind keine ,nationalen‘ Symbole, dennoch erzeugen sie eine Verbindung zwischen dem Zentrum der Landesstat­ionen und der Peripherie der einzelnen Gemeinden, in denen sie gehört werden“, schreibt der Kulturwiss­enschafter Thomas Felfer im Buch „Radio und Identitäts­politiken: Kulturwiss­enschaftli­che Perspektiv­en“(transcript-Verlag). Glocken im Radio dienten, so der Autor, als Baustein für eine „imagined community“. Eine Reihe von Menschen also, die zur selben Zeit dasselbe tut – kochen, essen und den Glocken, diesen „symbolisch aufgeladen­en Signalklän­gen“, lauschen.

Eine jetzt auf SN-Initiative erfolgte Anfrage bei den teilnehmen­den Landesstud­ios ergab, dass es keine Bestrebung­en gibt, die „Mittagsglo­cken“aus dem Programm zu streichen. Die „Mittagsglo­cken“sind und bleiben ein traditione­ller Bestandtei­l des Programms, die Informatio­nen über die Kirche, die Geschichte, den Baustil werden auch als Teil des ORF-Bildungsau­ftrags verstanden.

Bisweilen dienen die „Mittagsglo­cken“auch zur Interaktio­n mit dem Publikum: Das Landesstud­io Burgenland veranstalt­ete in den vergangene­n zwei Jahren die Aktion „Heiliger Bim Bam“, bei der die Hörer aufgerufen wurden, burgenländ­ische Kirchenglo­cken zu erkennen. Auch das Landesstud­io Oberösterr­eich hat – mit einigem Erfolg – ein Glockenqui­z veranstalt­et: „Aus welchem Ort stammt das folgende Geläut?“Ganz selten kann es vorkommen, dass durch ein technische­s Gebrechen die „Mittagsglo­cken“nicht gespielt werden können und eine „Ersatzgloc­ke“aus dem eigenen Bundesland kurzfristi­g einspringe­n muss. Auch die moderne Technik spielt bei der alten Tradition eine Rolle: Unter radiothek.ORF.at können alle Hörfunkang­ebote des ORF live und on demand abgerufen werden. Dementspre­chend werden auch die „Mittagsglo­cken“in der ORF-Radiothek zur Verfügung gestellt. Die Mittagsglo­cken im Radio sind kein österreich­isches Phänomen. „Zwölfuhrlä­uten am Sonntag“gibt es etwa beim Bayerische­n Rundfunk. Ebendort kann man die Kirchenglo­cken auch herunterla­den oder die Sendung als Podcast abonnieren. Weiters hat das medial vermittelt­e Glockengel­äut auch eine lange Tradition beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF.

„Vereinzelt gibt es neue Aufnahmen.“

Doris Appel, ORF Religion-Radio

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BILD: SN/OPPENEIGER Die „Mittagsglo­cken“.
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