Norditalien fügt sich in sein unausweichliches Schicksal
Casalpusterlengo zählt zu den zehn Gemeinden in der Lombardei, die die italienische Regierung wegen der SARS-CoV-2-Infektion per Notfalldekret von der Außenwelt isoliert hat. 50.000 Menschen sind betroffen, es regt sich keinerlei Protest gegen die drastischen Maßnahmen, sie werden als notwendig und sinnvoll hingenommen. Italien ist inzwischen nach China und Südkorea weltweit das Land mit den meisten festgestellten Infektionen. 229 waren es bei Redaktionsschluss am Montag, davon allein 172 in der Lombardei und 32 im Veneto, 18 in der Emilia-Romagna. Auch in Südtirol ist am Montag ein erster Fall bestätigt worden.
Rosella Franchi lebt in einem vierstöckigen Wohnhaus am Ortsrand von Casalpusterlengo. Normalerweise sei es hier schon eher ruhig, aber seit Sonntag sei es noch einmal stiller geworden, erzählt die 69-Jährige am Telefon. „Wir sind isoliert“, sagt Franchi, niemand werde aus der abgesperrten Zone herausgelassen. Im Ort sei die Fortbewegung schon möglich, aber ohne Auto, „das brauchen wir zurzeit nicht“. Weit kommt hier niemand, viele Leute gehen oder fahren auch nicht mehr zur Arbeit, selbst die Regionalbahn, die täglich Tausende nach Mailand oder in die Umgebung brachte, wurde bis auf Weiteres eingestellt.
Die zwei Bäckereien in Casalpusterlengo sind geöffnet, auch die beiden Supermärkte. Vor dem FamilaGroßmarkt, der sieben Fußminuten von Franchis Wohnung entfernt liegt, bilden sich seit Sonntag Warteschlangen. Die Carabinieri lassen nur wenige Kunden hinein. Sie befürchten einen unkontrollierten Ansturm. Zwei Stunden stand Franchi deshalb am Montag in der Schlange. Drinnen dann leere Regale. „Obst, Gemüse und Fleisch gab es nicht mehr“, sagt sie. Der Nachschub kommt von den Lkw, die am Ortseingang kontrolliert werden.
Die Mundschutzmasken, von denen Experten sagen, sie seien vor allem für diejenigen sinnvoll, die bereits mit dem Virus infiziert seien, sollten im Lauf des Tages geliefert werden. Wenn Rosella Franchi Bekannte auf der Straße trifft, wird Abstand gehalten. Ein Gruß, zwei Sätze, kein Handschlag und schon gar kein Küsschen.
Ein Problem besteht darin, dass Italien die Person nicht findet, die das Virus aus China eingeschleppt haben könnte. Der sogenannte Patient null ist nicht auffindbar. Anhand seiner Kontakte wären die Infektionskette möglicherweise nachvollziehbar und die Ansteckungen einzudämmen. Vielleicht wusste der Patient null gar nichts von seiner Ansteckung und hat das Virus längst weiterverbreitet? Italiens Nachbarländer sind alarmiert, man ist sich vielerorts sicher, dass das Problem derzeit noch südlich der Alpen liegt.
Flavia Arditi hat Angst. Die 33Jährige arbeitet in der Modebranche und lebt in Mailand. In der 1,5Millionen-Stadt mit großem Einzugsgebiet sind die Schulen und der Dom geschlossen. Auch Museen, Kinos, Fitnessstudios und die Oper bleiben zu. Wer heiratet oder jemanden zu Grabe trägt, darf das nur im kleinen Kreis machen. Gottesdienste sind vorläufig abgesagt, alles, um den Kontakt zwischen den Menschen und damit die Ansteckungsgefahr so niedrig wie möglich zu halten. Das sonst so lebendige Mailand liegt etwa 60 Kilometer nördlich der abgesperrten Zone bei Cremona und wird Tag für Tag mehr zur Geisterstadt. „Wer kann, verlässt die Stadt“, fügt Arditi hinzu. Familie Arditi kann nicht, wegen des kranken Familienmitglieds. Auch sie haben Vorräte angelegt, vor allem Nudeln, Saucen und Tiefgefrorenes. Die unausgesprochene Sorge ist, dass mit Mailand dasselbe passiert wie mit Casalpusterlengo und Codogno: totale Isolation. Arditi rechne damit, entweder werde Mailand isoliert oder die ganze Lombardei, sagt sie. Empörung oder auch nur eine Spur von Widerstand gegen dieses Szenario der totalen Abschottung ist bei ihr nicht zu spüren. Es ist so, als füge sich Norditalien in ein unausweichliches Schicksal.
„Wer kann, verlässt die Stadt.“ Flavia Arditi, Mailand