Sechs Minuten am Strand
Ich hatte den Strand schon manches Mal für mich allein. Ich gehe oft im Winter spazieren, auch im strömenden Regen. Doch noch nie empfand ich die Küste von Tel Aviv so trostlos wie heute. Die lebenslustige israelische Metropole am Mittelmeer ist sehr still geworden.
Ich wohne im Süden der Stadt, fünf Minuten zu Fuß vom Meer entfernt. Aber ich habe nur zehn Minuten. Länger darf man zurzeit zum Luftschnappen nicht draußen sein. Also fahre ich mit dem Rad. Zwei Minuten pro Strecke, bleiben sechs am Strand. Ich atme die salzige Meeresluft ein, so tief es geht.
Seit knapp zwei Wochen sind wir dauerhaft daheim. Schulen und Kindergärten sind geschlossen. Nur die Anwesenheit der engen Familie ist in den eigenen vier Wänden erlaubt. Verlassen darf man sein Haus nur zum Einkaufen, für Arztbesuche, zehnminütige Spaziergänge oder die Arbeit.
Auch die ist extrem eingeschränkt. Für den öffentlichen Sektor gilt der Notstand. Private Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten mussten 70 Prozent der Belegschaft in Kurzarbeit schicken. Rund 400.000 Israelis versuchen deshalb verzweifelt, Arbeitslosengeld zu erhalten.
Mein Lebensgefährte Oron leitet eine kleine Start-up-Firma für medizinische Geräte. Er arbeitet viel. Er ist Surfer, und noch nie hat ihm jemand verboten, ins Wasser zu gehen, wenn die Wellen tobten. Jetzt schon. Es ist schwierig für ihn, das zu akzeptieren. Meine Tochter Dana ist in der Armee. Normalerweise kommt sie jeden Abend heim. Jetzt nicht. „Soldaten sollen von der Zivilbevölkerung abgetrennt werden, damit die Ansteckungsrate gering gehalten wird“, heißt es.
Es leuchtet mir ein. Ich muss dringend zum Strand. Durchatmen. Wenn auch nur für zehn Minuten. Aber das geht erst morgen wieder.