Was Corona für den Welthandel bedeutet
Das Virus stoppt Lieferketten und löst Exportstopps aus. Aber genau das ist kontraproduktiv, sagen Experten.
WIEN. Für den Welthandel insgesamt ist die Coronakrise ein schwerer Rückschlag. Der Schock werde schlimmer ausfallen als jener durch die Finanzkrise 2008, sagt Roberto Azevêdo, der Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO. Einschätzen will er die Effekte noch nicht, es werde aber einen „sehr steilen Rückgang“geben. Der Chef des Instituts für Höhere Studien, Martin Kocher, sagt, der Welthandel werde heuer um 2,5 Prozent schrumpfen, das ist das zweite Jahr in Folge mit einem Rückgang. Es gibt kein Land, das die Coronaeffekte nicht zu spüren bekommt. Denn die vernetzte globalisierte Wirtschaft ist ein anfälliges System. Das hat sich spätestens gezeigt, als nach dem Coronaausbruch in China viele Werke wochenlang stillstanden. Damit wurden wichtige Lieferketten unterbrochen.
Besonders sichtbar werden globale Lieferprobleme im Bereich medizinischer Hilfsgüter wie Medikamente, Beatmungsgeräte, Schutzbekleidung und Tests, um die Coronakrise in den Griff zu bekommen. Die Staaten stecken dabei in der Zwickmühle. Auf der einen Seite geht es prioritär um den Schutz der eigenen Bevölkerung. Auf der anderen Seite stehen die Handelspolitik und das legitime Interesse an einer funktionierenden nationalen Wirtschaft. Das hat vielfach zu Ausfuhrverboten solcher Güter in andere
Länder geführt. Laut Professor Simon Evenett von der Hochschule St. Gallen haben allein heuer mehr als 50 Länder solche Maßnahmen ergriffen, die meisten erst seit Akutwerden der Krise in Europa Anfang März. Er widerlegt in einer Studie die Argumente für Exportbeschränkungen. Die Steuereinnahmen daraus seien mit 4,5 bis 9 Mrd. Dollar weltweit angesichts der großen Stützungsmaßnahmen überschaubar und die befürchtete Abhängigkeit von einigen wenigen Herstellerländern oftmals kleiner als befürchtet. Evenett verweist auf eine freiwillige Selbstverpflichtung einiger Länder wie Neuseeland, Kanada, Australien und Singapur, „angesichts der Covid-19-Krise Lieferketten offen zu lassen und Handelshemmnisse für Güter zur medizinischen Versorgung zu beseitigen“.
Das könnte man Protektionismus nennen, sagt Bettina Rudloff von der Berliner Denkfabrik SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik). „Aber man kann auch darüber nachdenken, wo man was produziert, um Wertschöpfungsketten zu verkürzen.“Jetzt gebe es Bestrebungen, solche Produktionen wieder ins eigene Land zurückzuholen. Rudloff plädiert dafür, sich solche Reflexe noch einmal sachlich durchzudenken. „Die Arbeitsteilung hat ja auch einen Grund“, sagt sie. Ähnliche Tendenzen sieht sie übrigens auch bei der Versorgung mit Agrarprodukten und für Bereiche der kritischen Infrastruktur insgesamt. Sie regt an, vor allem innerhalb Europas kritische Infrastruktur untereinander besser zu koordinieren. Denn „die nächste Krise wird kommen und sie wird eine andere sein“. Rudloff sieht eine generelle Tendenz der Staaten, die eigenen Strukturen zu schützen, was auch einhergeht mit einem sinkenden Stellenwert der Welthandelsorganisation WTO. „Die reine Freihandelsdoktrin ist schon länger nicht mehr das große Dogma.“
Auch Michael Löwy, der in der Industriellenvereinigung (IV) für den internationalen Handel zuständig ist, verweist auf die derzeit kaum zu vereinbarenden Interessen. Jedes Land befinde sich in einer Art Krisenmodus und agiere gemäß dem jeweiligen Krankheitsverlauf und politischen Druck. Zugleich dürfe aber der Handel mit anderen Ländern – zumal Nachbarn – nicht zum Erliegen kommen. So sei in Europa aktuell „der Warenverkehr zwar gestört, grundsätzlich aber intakt“, sagt Löwy. Viele EU-Länder würden dieser Tage an ihre Grenzen stoßen – auch im übertragenen Sinn. Denn sie brauchen ein gewisses Maß an Grenzverkehr und Tagespendlern, um das Sozial- und Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten. Ohne internationale Kooperation sei eine Krise wie Corona nicht zu bewältigen. In dieser Situation kommt es dazu, dass Regeln des Binnenmarkts wie die Personenfreizügigkeit verletzt oder außer Kraft gesetzt werden. Die Staaten müssen hier Prioritäten setzen und versuchen, den medizinischen Schutz der Bevölkerung so gut wie möglich mit dem Aufrechterhalten des wirtschaftlichen und sozialen Systems unter einen Hut zu bekommen. Das stellt auch die bestehenden Regeln des Handels und des Binnenmarkts auf eine harte Probe. Auch die Welthandelsorganisation WTO erlaubt Ausnahmen von bestehenden Handelsregeln in Notsituationen. Man könnte es als Zeichen der Schwäche verstehen, wenn die EU-Kommission jetzt nicht in der Lage ist, auf ihre eigenen Regeln zu pochen und solche Regelverstöße zu ahnden. „Man sieht, dass die politische Kraft der EU an ihre Grenzen gerät, sobald die Staaten vor wirklich existenzielle Fragen gestellt sind, wie wir sie bisher nicht kannten“, sagt Löwy. Dabei wäre gerade jetzt ein gut abgestimmtes, funktionierendes Europa dringend notwendig.