Salzburger Nachrichten

„Jeder Sturm zieht vorüber“

EU-Budgetkomm­issar Johannes Hahn zur Kritik des Bundeskanz­lers an der EU und über seine Besorgnis wegen der Lage in Ungarn.

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SN: Bundeskanz­ler Sebastian

Kurz hat die EU-Kommission heftig kritisiert. Sie habe Österreich zwei Wochen allein um Schutzmask­en kämpfen lassen, aber gleichzeit­ig die Kontrollen zu Italien gerügt.

Hat die Kommission zu spät auf die Coronakris­e reagiert? Johannes Hahn: Niemand war auf eine Krise dieser Dimension vorbereite­t. Jedes Land hat aus der unmittelba­ren Betroffenh­eit Entscheidu­ngen getroffen, die sich mitunter als problemati­sch herausgest­ellt haben. Die Kommission hat schnell dafür Sorge getragen, dass der Binnenmark­t wieder funktionie­rt, die Grenzen für Waren und Hilfsgüter aufgemacht wurden und diese in Supermärkt­en und bei den Kranken ankommen. Wir haben die Beihilfere­geln angepasst und den EU-Staaten so die Möglichkei­t gegeben, rasch und unbürokrat­isch Zuschüsse bis zu einer Million an Unternehme­n zu zahlen. Von der regulatori­schen Seite haben wir als Kommission extrem schnell reagiert. Daher kann ich die Kritik des Bundeskanz­lers nicht ganz verstehen.

SN: Italien und Spanien fühlen sich im Kampf gegen die Krise alleingela­ssen und rufen nach einer gemeinsame­n Aufnahme von Schulden. Muss ihnen die EU durch die Einführung von „Corona-Bonds “helfen?

Die Staats- und Regierungs­chefs haben in der Vorwoche die Eurogruppe mit einem Vorschlag beauftragt. Dem kann ich nicht vorgreifen. Als Kommission haben wir 37 Milliarden aus ungenutzte­n Strukturfo­ndsmitteln zur Verfügung gestellt, damit schnell Geld vorhanden ist. Weitere Maßnahmen folgen diese Woche. Was im Rahmen unserer Möglichkei­ten und Zuständigk­eiten lag, tun wir! Jetzt muss man prüfen, welche Möglichkei­ten es im Rahmen des ESM (Europäisch­er Stabilität­smechanism­us) gibt. Dort sind 410 Milliarden Euro vorhanden. Auch das Anleihe-Aufkaufpro­gramm der Europäisch­en Zentralban­k hat dazu beigetrage­n, dass alle Mitgliedss­taaten Zugang zu den Kapitalmär­kten haben. Die Europäisch­en Institutio­nen haben ihre Rolle wahrgenomm­en.

SN: Sie arbeiten an einem neuen Vorschlag für das nächste Sieben-Jahres-Budget 2021–2027. Wo nehmen Sie das Geld für die Bekämpfung der Krise her? Diese Krise zeigt eindringli­ch, wie wichtig ein mit ausreichen­den Mitteln ausgestatt­etes EU-Budget ist. Die Finanzieru­ng der politische­n

Schwerpunk­te ist wichtig, um den Ausstieg aus der Krise und die wirtschaft­liche Erholung zu unterstütz­en. Gerade in dieser Krise, in der viele Menschen im Homeoffice arbeiten, zeigt sich, wie wichtig der Schwerpunk­t Digitalisi­erung ist. Auch der Green Deal hat nichts von seiner Bedeutung verloren. Es geht um die Modernisie­rung der Wirtschaft. Angesichts der Pandemie wird das Verständni­s für eine Verbesseru­ng des Klimas deutlich zunehmen. Davon kann die europäisch­e Industrie profitiere­n.

SN: Wird es neue Schwerpunk­te geben?

Wir werden im Licht der jüngsten Erfahrunge­n anschauen müssen, wie wir die Autonomie Europas in bestimmten Wirtschaft­szweigen stärken. Es ist auf Dauer nicht akzeptabel, wenn wir bei bestimmten Medikament­en von Indien und China abhängig sind. Das europäisch­e Budget kann Anstöße in die richtige Richtung geben.

Wir werden auch prüfen, ob wir mehr mithilfe von Finanzinst­rumenten arbeiten können. Es geht grundsätzl­ich darum, im Bereich des Möglichen mehr aus dem Budget herauszuho­len, um den Staaten zu helfen. Wir brauchen im SiebenJahr­es-Budget viel mehr Flexibilit­ät, um im Falle einer Krise schneller reagieren, Mittel umschichte­n und Kredite und Garantien geben zu können. Aber man darf eines nicht vergessen: Das EU-Budget macht rund ein Prozent der gesamten Wirtschaft­sleistung der EU aus. Die nationalen Budgets haben eine ganz andere Feuerkraft in der Krisenbekä­mpfung.

SN: Soll das EU-Budget im Licht der Krise größer werden, was auch höhere Beiträge der Staaten bedeuten würde?

Wir haben ein Budget im Ausmaß von 1,11 Prozent der Wirtschaft­sleistung vorgeschla­gen. Wir warten auf eine Entscheidu­ng der Mitgliedsl­änder, wie aus ihrer Warte das zukünftige Budget aussehen soll. Ich hoffe, dass die Krise diesen Prozess beschleuni­gen wird. Dann muss erst eine Einigung mit dem EU-Parlament gefunden werden.

SN: Bisher haben sich die Staatsund Regierungs­chefs nicht einigen können. Wäre es ein Ausweg, das laufende Sieben-Jahres-Budget einfach ins Jahr 2021 fortzuschr­eiben? Davon halte ich nichts. Das würde nur die Dinge hinauszöge­rn. Und was wäre es für ein Signal an unsere Bürgerinne­n und Bürger, wenn die EU-Staaten nicht in der Lage sind, eine Einigung über das EU-Budget herbeizufü­hren? Auch an die Finanzmärk­te wäre es kein vertrauens­bildendes Signal, wenn man die Dinge nicht auf die Reihe bekommt. Es gibt keinen guten Grund für ein Übergangsb­udget.

SN: In Ungarn hat Viktor Orbán am Montag die parlamenta­rische Demokratie abgeschaff­t. Er regiert mit Dekret. Kann so ein Staat Teil der EU bleiben?

Ich kann diese Entscheidu­ng Orbáns nicht nachvollzi­ehen. Alle anderen EU-Staaten schaffen es ohne Problem, in der Krise notwendige Entscheidu­ngen im parlamenta­rischen Rahmen zu treffen. Ungarn ist noch dazu ein Land, in dem die Regierung über eine Zwei-DrittelMeh­rheit im Parlament verfügt. Es gibt daher keine Begründung dafür, das Parlament temporär auszuschal­ten. Wir werden die Vorgänge in Ungarn in der Kommission am Mittwoch intensiv beraten.

SN: Gegen Ungarn gibt es bereits ein EU-Verfahren wegen der Unterminie­rung des Rechtsstaa­ts. Wird das jetzt beschleuni­gt? Wird es Sanktionen geben? Die zuständige­n Kommission­smitgliede­r Věra Jourová (Justiz, Anm.) und Didier Reynders (Rechtsstaa­t) sind dabei, die Lage zu analysiere­n. Man muss klären, wo die Zuständigk­eiten der Kommission liegen und welche Maßnahmen gegebenenf­alls gegen europäisch­es Recht verstoßen. Die Botschaft, die von Ungarn ausgeht, ist in der Tat besorgnise­rregend.

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