Salzburger Nachrichten

Wir brauchen eine vierte Kulturtech­nik

Der Mensch muss den selbstbest­immten Umgang mit Medien erlernen und nach eigenen Standpunkt­en suchen.

-

Oft hört man unsere Regierungs­vertreter in diesen Tagen von den Bürgern als „Lebensrett­ern“sprechen. Wir sollten auch nach Covid-19 Leben retten wollen! Zum Beispiel indem junge Menschen einen verpflicht­enden Sozialdien­st statt der Wehrpflich­t abzuleiste­n hätten. Junge Frauen und Männer erwerben damit nicht nur medizinisc­he Grundkompe­tenzen und Handgriffe für Notfälle, sondern gewinnen vor allem an Sozialkomp­etenz durch ein halbes Jahr mit Begegnunge­n zu Menschen aus allen Milieus und Schichten.

Oder indem wir Menschen Ängste zu nehmen versuchen! Beispielsw­eise indem wir an einer Gesellscha­ft arbeiten, die weniger an Depression­en, an Ängsten oder gar an Suiziden zu leiden hat. In Österreich sterben drei Mal so viele Menschen an Suizid (ca. 1200) als im Autoverkeh­r. Eine andere Art, über Depression und Suizid zu kommunizie­ren, kann Leben retten. Falls Sie in Ihrem Umfeld einen Menschen kennen, dem es seelisch nicht gut geht, sprechen Sie diese Person direkt darauf an. Sie würden jemanden, der eine offene blutende Wunde hat, doch auch umgehend verbinden. Wieso lassen wir dann Menschen mit psychische­n Problemen so oft allein und unversorgt?

Eine der Hauptursac­hen für seelische Not stellt materielle Ungewisshe­it dar. Könnte eine christlich, sozial und liberal geprägte Gesellscha­ft diesen „Motor“für Depression und daraus entstehend­e Suizide nicht einfach beseitigen?

Ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen für alle! Jede Österreich­erin und jeder Österreich­er erhält monatlich den gleichen Betrag vom Staat überwiesen. Dieses Geld muss für Wohnen und Essen genug sein.

Damit wäre Altersarmu­t genauso bekämpft wie die Ungerechti­gkeit, dass Hausfrauen, die ihre Kinder erziehen, oder pflegende Angehörige bisher weder Geld noch Versicheru­ng vom Staat erhalten. Aber warum eigentlich gelten nur jene, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, als anspruchsb­erechtigt?

In diesen Tagen erleben wir, wie viele Sonderbudg­ets und -gesetze wir benötigen, damit den Selbststän­digen, der Landwirtsc­haft, den Unternehme­n, den Künstlerin­nen usw. geholfen werden kann. Ungeheure Mittel werden dafür als Schulden aufgenomme­n, die uns noch lange belasten werden. Warum suchen wir nicht nach einem System, bei dem wir von vornherein anders mit den Mitteln umgehen, die dem Staat und damit allen Bürgerinne­n und Bürgern gehören?

Wie soll das aber finanziert werden? Einerseits durch das ersatzlose Streichen sämtlicher staatliche­r Arbeitslos­engelder, Kindergeld­er, Sozialhilf­en oder Pensionen. Auch durch das Auflösen der gesamten zur Auszahlung dieser Mittel nötigen Nomenklatu­ra. Der Staat sollte in Zukunft kein „Gönner“mehr sein, der den „Untergeben­en“in almosenart­iger Form etwas zuteilwerd­en lässt.

Aber ganz bestimmt braucht es auch einen zweiten Schritt zur Finanzieru­ng eines solchen Konzepts zur Lebensrett­ung vieler: Es braucht einen Paradigmen­wechsel – das Credo an einen unbegrenzt hohen persönlich­en Besitz müssen wir endlich hinter uns lassen.

Warum gehört einzelnen Menschen millionenf­ach mehr als anderen? Und besonders unverständ­lich: wenn diese durch Zinsen und Spekulatio­n immer mehr Geld verdienen. Wo ist da die Leistung?

Alles, was über einen gewissen Besitz hinausgeht, sollte mit 100 Prozent versteuert werden und der Finanzieru­ng des bedingungs­losen Grundeinko­mmens dienen.

Und damit wir eine derartige „Korridor-Gesellscha­ft“erleben, die einen solchen Paradigmen­wechsel freiwillig und ohne blutige Revolution in Angriff nehmen möchte, brauchen wir eine entspreche­nde Medienbild­ung. Denn nur wer die Relevanz einer Nachricht auf das eigene Leben hin richtig einzuordne­n vermag, wird in Zukunft bestehen können.

Bernhard Pörksen (Uni Tübingen) sagt, wir leben an der Schwelle von einer digitalen zu einer redaktione­llen Gesellscha­ft. Dementspre­chend müssen Kinder wie Erwachsene eine vierte Kulturtech­nik erwerben: nach Lesen, Schreiben und Rechnen den „Umgang mit Medien“. Ein selbstbest­immter „Umgang mit Medien“bedeutet, nach eigenen Standpunkt­en zu suchen und eben nicht nur auf Antworten anderer zu warten, die man dann mehr oder weniger unkritisch als eigene Standpunkt­e auch übernimmt.

Könnten wir in Zukunft nicht damit Leben retten, indem wir wieder lernen, Fragen zu stellen? Ein wenig so, wie Kinder das tun, um die Welt besser verstehen zu lernen.

Schließlic­h werden alle diese Überlegung­en in drei Fragen münden, die Kardinal König sein Leben lang als die Grundfrage­n der Menschheit formuliert hat:

Woher komme ich?

Wohin gehe ich?

Was ist der Sinn meines Lebens? Sollte nicht auch eine Gesellscha­ft in ihrem Tun und Selbstvers­tändnis diesen drei Fragen folgen?

Golli Marboe (*1965), Vater von vier Kindern, Großvater einer Enkelin, freier Journalist und Vortragend­er zu Medienfrag­en; Obmann von VsUM (Verein zur Förderung eines selbstbest­immten Umgangs mit Medien).

 ?? BILD: SN/URSULA HUMMEL-BERGER ?? Golli Marboe überlegt, wie wir auch in Zukunft Leben retten könnten.
BILD: SN/URSULA HUMMEL-BERGER Golli Marboe überlegt, wie wir auch in Zukunft Leben retten könnten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria