Die EU wird solidarisch sein. Oder sie wird nicht sein
Die Zukunft des Projekts Europa hängt davon ab, ob die Bürger nach der Pandemie sagen können: „Die EU hat uns geholfen.“
Ein Bild hat sich eingebrannt. Es zeigt Frachtkisten mit chinesischen Schriftzeichen und der italienischen Aufschrift „Siamo con voi“– „Wir sind mit euch“. Der angegebene Inhalt der Kisten: Atemschutzmasken aus China, bestimmt für Italien.
In den sozialen Netzwerken wurde dieses Bild zigtausendfach kommentiert. Oft schwang Bitterkeit mit. Warum er keine Frachtkisten mit EU-Flagge sehe, fragte ein Italiener. Und stellte fest, dass China helfe, nicht aber die europäischen Freunde. Tatsächlich erhielt Italien in der Zeit der größten Not Mitte März dringend benötigte Schutzkleidung aus China, während Frankreich, Deutschland und andere EULänder diese Güter nicht außer Landes ließen.
Deutschland hat diese Exportbeschränkungen mittlerweile aufgehoben; die Kommission hat eine gemeinsame Beschaffung in die Wege geleitet. Doch da war der Schaden bereits eingetreten. Viele Menschen, speziell in Italien und Spanien, glauben das Versprechen nicht mehr, wonach die EU eine Solidargemeinschaft ist.
Das ist für den Bestand der Union gefährlich. Wofür braucht man sie, wenn sie sich in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg nicht bewährt?
Das ist die Frage, die über allem steht – auch über den Wiederaufbauhilfen für die europäische Wirtschaft.
Dabei ist es nicht so wichtig, ob das Mittel der Wahl eine gemeinsame Schuldenaufnahme der EUStaaten oder die Nutzung bestehender Instrumente oder ein Mix aus beidem ist.
Entscheidend wird sein, dass die Mittel ausreichend sind. Dem ersten Paket, über das die EU-Staaten gerade verhandeln, werden ziemlich sicher weitere folgen müssen.
Entscheidend wird weiters sein, dass die Finanzhilfen jenen zugutekommen, die sie am dringendsten brauchen – also Italien und Spanien. Und zwar ohne demütigende Bedingungen.
Man mag einwenden, dass nun Staaten Hilfe benötigen, die, hätten sie eine sparsamere Budgetpolitik betrieben, besser dastünden.
Stimmt. Und was weiter?
Die Zukunft der Union wird davon abhängen, ob ihre Bürger nach der Pandemie sagen können: „Die EU hat uns geholfen.“Oder ob sie feststellen müssen: „Die EU hat uns im Stich gelassen.“
Der zweite Fall könnte der Anfang vom Ende der Union sein. Die wirtschaftlichen und politischen Kosten wären unermesslich – und jedenfalls höher als alle denkbaren Rettungspakete zusammen.