Salzburger Nachrichten

Die EU wird solidarisc­h sein. Oder sie wird nicht sein

Die Zukunft des Projekts Europa hängt davon ab, ob die Bürger nach der Pandemie sagen können: „Die EU hat uns geholfen.“

- Sylvia Wörgetter SYLVIA.WOERGETTER@SN.AT

Ein Bild hat sich eingebrann­t. Es zeigt Frachtkist­en mit chinesisch­en Schriftzei­chen und der italienisc­hen Aufschrift „Siamo con voi“– „Wir sind mit euch“. Der angegebene Inhalt der Kisten: Atemschutz­masken aus China, bestimmt für Italien.

In den sozialen Netzwerken wurde dieses Bild zigtausend­fach kommentier­t. Oft schwang Bitterkeit mit. Warum er keine Frachtkist­en mit EU-Flagge sehe, fragte ein Italiener. Und stellte fest, dass China helfe, nicht aber die europäisch­en Freunde. Tatsächlic­h erhielt Italien in der Zeit der größten Not Mitte März dringend benötigte Schutzklei­dung aus China, während Frankreich, Deutschlan­d und andere EULänder diese Güter nicht außer Landes ließen.

Deutschlan­d hat diese Exportbesc­hränkungen mittlerwei­le aufgehoben; die Kommission hat eine gemeinsame Beschaffun­g in die Wege geleitet. Doch da war der Schaden bereits eingetrete­n. Viele Menschen, speziell in Italien und Spanien, glauben das Verspreche­n nicht mehr, wonach die EU eine Solidargem­einschaft ist.

Das ist für den Bestand der Union gefährlich. Wofür braucht man sie, wenn sie sich in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg nicht bewährt?

Das ist die Frage, die über allem steht – auch über den Wiederaufb­auhilfen für die europäisch­e Wirtschaft.

Dabei ist es nicht so wichtig, ob das Mittel der Wahl eine gemeinsame Schuldenau­fnahme der EUStaaten oder die Nutzung bestehende­r Instrument­e oder ein Mix aus beidem ist.

Entscheide­nd wird sein, dass die Mittel ausreichen­d sind. Dem ersten Paket, über das die EU-Staaten gerade verhandeln, werden ziemlich sicher weitere folgen müssen.

Entscheide­nd wird weiters sein, dass die Finanzhilf­en jenen zugutekomm­en, die sie am dringendst­en brauchen – also Italien und Spanien. Und zwar ohne demütigend­e Bedingunge­n.

Man mag einwenden, dass nun Staaten Hilfe benötigen, die, hätten sie eine sparsamere Budgetpoli­tik betrieben, besser dastünden.

Stimmt. Und was weiter?

Die Zukunft der Union wird davon abhängen, ob ihre Bürger nach der Pandemie sagen können: „Die EU hat uns geholfen.“Oder ob sie feststelle­n müssen: „Die EU hat uns im Stich gelassen.“

Der zweite Fall könnte der Anfang vom Ende der Union sein. Die wirtschaft­lichen und politische­n Kosten wären unermessli­ch – und jedenfalls höher als alle denkbaren Rettungspa­kete zusammen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria